Offener Brief zur geplanten Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Asylprozess
An die Bundesvorsitzenden von CDU, CSU und SPD
An die jeweiligen Leiter/innen der Arbeitsgruppe 1 (Innen, Recht, Migration und Integration)
Sehr geehrte Frau Esken,
sehr geehrter Herr Klingbeil,
sehr geehrter Herr Merz,
sehr geehrter Herr Söder,
sehr geehrter Herr Dr. Krings,
sehr geehrte Frau Lindholz,
sehr geehrter Herr Wiese,
ausweislich der von Ihnen am 8. März 2025 veröffentlichten Ergebnisse der Sondierungen von CDU, CSU und SPD beabsichtigen Sie eine Änderung des Asylrechts derart, dass dort aus dem „Amtsermittlungsgrundsatz“ der „Beibringungsgrundsatz“ werden müsse.
Ein solches Vorhaben verstößt offensichtlich gegen Verfassungs-, Europa- und Völkerrecht. Wir fordern Sie daher dazu auf, von der geplanten Änderung Abstand zu nehmen. Eine Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit im Bundestag, die sich dem Rechtsstaat verpflichtet fühlen, verabschieden nicht sehenden Auges Recht, das elementare Grund- und Menschenrechte verletzt.
Der Amtsermittlungsgrundsatz gilt im verwaltungsgerichtlichen Prozess kraft Verfassungsrechts. Dies sieht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung so, in völliger Übereinstimmung mit der juristischen Fachliteratur. Die Garantie des Rechtswegs gegen Akte der öffentlichen Gewalt nach Artikel 19 Absatz 4 GG erfordert eine vollständige gerichtliche Überprüfung der behördlichen Maßnahme sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht.
Was für den Verwaltungsprozess im Allgemeinen gilt, gilt auch für das gerichtliche Asylverfahren. Auch das ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung seit langem etabliert. Der verwaltungsgerichtlichen Sachaufklärungspflicht kann danach besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommen, wenn nach dem Vortrag von Geflüchteten im jeweiligen Herkunftsland eine Verletzung hochrangiger Grundrechte drohte. Die Verwaltungsgerichte sind deshalb von Verfassungs wegen verpflichtet, aussichtsreiche Aufklärungsmöglichkeiten und spezifische institutionalisierte Quellen wie etwa Erkenntnismittel zu nutzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. August 2023, Az. 2 BvR 593/23). Dabei muss man auch berücksichtigen, dass im Asylrechtsstreit der Untersuchungsgrundsatz ohnehin durch gesteigerte Mitwirkungspflichten seitens Schutzsuchender eingeschränkt wird. Auch tragen Letztere – trotz typischer Schwierigkeiten, Nachweise für eine individuelle Verfolgung oder die allgemeine Lage im Herkunftsland vorzulegen – grundsätzlich die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung von internationalem Schutz. Dabei stehen sie, nicht anders als sonstige Kläger*innen vor Verwaltungsgerichten auch, als Einzelne rechtsschutzsuchend einem Staat in seiner geballten Macht gegenüber und wehren sich gegen eine sie belastende Entscheidung – allerdings mit dem Unterschied, dass dieser Staat sie nicht (mehr) willkommen heißt und ihnen in letzter Konsequenz erhebliche, vielleicht sogar tödliche Folgen drohen, sollte ihre Klage erfolglos bleiben.
Dieses Vorhaben, auf das Sie sich geeinigt haben, reiht sich ein in eine schnelle Abfolge unzähliger Maßnahmen und Vorschläge zur Begrenzung von Migration in den zurückliegenden Wochen, Monaten und Jahren. Keine gesellschaftliche Gruppe hat in letzter Zeit Eingriffe von solcher Qualität und solchen Ausmaßes in ihre Freiheitsrechte erleiden müssen, wie Geflüchtete, Schutzsuchende und Menschen mit internationaler Geschichte. Ihnen werden staatliche Leistungen – teils vollständig – gekürzt, sie werden mit staatlichen Maßnahmen wie der Bezahlkarte schikaniert, ohne dass auch nur irgend ein empirischer Beleg dafür bestünde, dass sie in nennenswertem Umfang empfangene Gelder in ihre Herkunftsländer überweisen. Ihre Abweisung, ja Inhaftierung an den deutschen und europäischen Grenzen wird als wünschenswert angesehen, unabhängig davon, in welcher persönlichen Lage sie sich befinden und welche Fluchtgeschichte sie vorzutragen haben. Wo sonst das Recht auf Ehe und Familie als hoch und heilig erachtet wird, meint man, Menschen mit Schutzstatus dauerhaft von ihren engsten Angehörigen trennen zu können. Dass man Fluchtbewegungen als „Zustrom“ bezeichnet und Geflüchtete als Gruppe dafür verantwortlich macht, wenn Einzelne aus unterschiedlichen Motiven heraus und in unterschiedlicher individueller Situation Verbrechen begehen, zeigt, wie unsachlich die Debatte um Migration mittlerweile geworden ist. Geflüchtete werden als bloße Belastung gesehen, gar als Gefahr, und dadurch entmenschlicht und verdinglicht. Würde man, wie nun von Ihnen geplant, für den Asylprozess Sonderrecht schaffen, um ihnen Rechtsschutz möglichst zu erschweren, wenn nicht faktisch unmöglich zu machen, wäre das ein weiterer Schritt hin zu einer völligen Verrohung der Debatte. Wir fordern Sie deshalb auf, umgehend auf den Pfad des Verfassungs- und Europarechts, der Grund- und Menschenrechte zurückzukehren.
Mit freundlichen Grüßen
Sven Kersten
Sprecher des Bundesvorstandes der NRV
Fachgruppe Verwaltungsrecht