Zwang vermeiden – Sensibilität für die Wirkung von Zwangsbehandlungen verstärken!
Im Rahmen der „Evaluierung des Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten“ wurde am 24.1. 2024 ein Schlussbericht der entsprechenden Arbeitsgruppe beim Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz vorgestellt.
Die Fachgruppe Betreuungsrecht der NRV begrüßt die Ergebnisse des Forschungsberichts und stimmt den Ergebnissen zu. Eine grundlegende Korrektur oder Veränderung der gesetzlichen Bestimmungen zu den ärztlichen Zwangsmaßnahmen halten wir (auch verfassungsrechtlich) nicht für geboten und grundsätzlich nicht für sinnvoll. Änderungen im Detail halten wir aber für geboten.
Folgendes ist dabei für uns essentiell:
Keine Übertragung der Zwangsbehandlungskontrolle auf das Strafrecht
Es muss gesichert sein, dass die Verlagerung von ärztlichen Maßnahmen ohne oder gegen den Willen von Patienten und Patientinnen auf die Rechtfertigungstatbestände der – originär strafrechtlichen – Nothilfe (§ 32 StGB) oder den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) in (vermeintlichen) Notfällen nicht zum Ersatz für ein geordnetes gerichtliches Verfahren nach dem FamFG, PsychKG oder betreuungsgerichtlichen Unterbringungsrecht wird.
An dieser Stelle weist die Studie leider eine große Lücke auf, da Medikamentengaben im Wege der (vermeintlichen) Nothilfe oder des (vermeintlichen) Notstands überhaupt nicht betrachtet werden. Hier besteht (v.a. in der medizinischen Praxis) aber ein großer blinder Fleck, verbunden mit der Gefahr, dass je höher die Anforderungen an gerichtliche Verfahren werden, aus einem tief empfundenen klinischen praktischen Bedürfnis heraus, immer mehr Behandlungen ohne betreuungsgerichtliche Beteiligung in die (vermeintliche) Nothilfe oder den (vermeintlichen) Notstand „verschwinden“. Dies kann weder für die Krankenhäuser (vgl. die straf- und zivilrechtlichen Haftungsgefahren) noch für die betroffenen Personen und insbesondere nicht für die Wahrung rechtsstaatlicher Transparenz bei diesen massivsten Grundrechtseingriffen sinnvoll sein.
Kein Miss- oder Fehlgebrauch von Eilverfahren:
Verfahrensrechtlich gilt: Ein Missbrauch oder Fehlgebrauch des Eilverfahrens (§§ 331ff FamFG) darf nicht stattfinden.
Finden Entscheidungen ausschließlich oder überwiegend im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung oder Genehmigung statt, wird der mit guten Gründen stark ausgestaltete Schutz durch das Hauptsacheverfahren ausgehebelt (vgl. die geringeren Verfahrensanforderungen in § 331 S. 1 Nr. 1-4 FamFG). Demzufolge müsste zumindest die Praxis der Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren überdacht werden. Aber es kann auch von gesetzgeberischer Seite leicht etwas getan werden:
Die Regelung des § 332 FamFG, welche die Anordnung und Genehmigung von Zwangsmaßnahmen des Unterbringungsrechts vor persönlicher Anhörung der betroffenen Personen bei besonderer Dringlichkeit ermöglicht, sollte bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen wegen der Intensität des Eingriffs und der hohen materiellen Schwelle für ärztliche Zwangsmaßnahmen überhaupt nicht anwendbar sein. Dies muss im Gesetz zwingend normiert werden.
Eine Reduzierung von Eilverfahren setzt aber auch die – äußerst wünschenswerte – Möglichkeit einer schnellen Gutachtenerstellung voraus, die eine einstweilige Anordnung oder einstweilige Genehmigung sehr häufig überflüssig macht; das ist allerdings eine Strukturfrage (Verfügbarkeit von qualifizierten „schnellen“ Gutachter:innen). Hier wäre die Erstellung bzw. Erweiterung von medizinisch-fachlichen Leitlinien (wie z.B. die S2k-Leitlinie 051-029 “Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen”, welche leider für Betreuungs- und Unterbringungsverfahren nicht verfasst wurde) sowie eine Verbesserung der medizinischen Fortbildung unerlässlich.
Die Bedeutung der Überzeugungsversuche
Zusätzlich ist – wie schon in der Studie treffend dargestellt – die Bedeutung der Überzeugungsversuche nach § 1832 Abs. 1 Nr. 4 BGB hervorzuheben, da diese wegen der BVerfG-Rechtsprechung von hoher Relevanz und ernsthaft zu betreiben sind. Die Aufklärungspflicht in § 630e BGB und der Überzeugungsversuch in § 1832 Abs. 1 Nr. 4 BGB sind unterschiedliche Rechtshandlungen. Nichtsdestoweniger ist die Rolle der behandelnden Ärzt:innen zentral:
Wir sehen sowohl die behandelnden Ärzti:nnen als fachlich kompetente Personen, die zunächst die betroffenen Personen und Betreuer:innen (bzw. Bevollmächtigten) aufklären und die Behandlung schließlich auch „anbieten“ (müssen), als auch die Betreuerinnen und Betreuer im Rahmen ihrer Besprechungspflicht in der Verantwortung, auf die betroffenen Menschen zuzugehen und bei entsprechender eigener Überzeugung für die Maßnahme zu werben. Ärzti:nnen sind aber schon aufgrund ihrer Fachkompetenz gehalten, die Überzeugungsversuche im Sinne eines Behandlungsangebots zu machen und ggf. auch zu wiederholen oder die Betreuer:innen (bzw. Bevollmächtigten) zu befähigen, ihrerseits einen oder mehrere fachlich fundierte Überzeugungsversuche zu unternehmen. Nur die Ärzt:innen können aus eigener Fachkompetenz, Vor- und Nachteile, Risiken, Chancen und Nebenwirkungen fachlich darlegen. Im Falle der öffentlich-rechtlichen Zwangsbehandlungen sind sie im Übrigen die einzigen, die im Sinne des Gesetzes Überzeugungsversuche leisten können.
Betreuer:innen müssten aber auch die Möglichkeit haben, in dichteren Abständen vor Ort zu sein, um überhaupt Überzeugungsversuche durchführen zu können oder die Rechte der betroffenen Personen bei den Aufklärungen oder Überzeugungsversuchen wahrnehmen zu können.
Überzeugungsversuche, die sinnlos sind – weil z.B. die betroffenen Personen dies schon gar nicht kognitiv verstehen können – müssen unseres Erachtens nicht in Verlängerungsverfahren wiederholt werden. Auch dann, wenn der Leidensdruck hoch und die Ablehnung konsistent und nachhaltig ist, sollen die Überzeugungsversuche nicht zum sinnentleerten Ritual werden. Die fehlende Verständnismöglichkeit bzgl. weiterer Überzeugungsversuche muss dann entsprechend dokumentiert und auch in dem notwendigen Gutachten erfasst werden.
Keine Ausweitung der Zwangsbehandlungsmöglichkeiten auf den außerstationären Bereich
Am § 1832 II S.1 Nr. 7 BGB – dem Erfordernis der stationären Krankenhausbehandlung – wollen wir jedenfalls grundsätzlich festhalten. Eine Absenkung der Eingriffsschwelle oder Ausweitung der Zahl der ärztlichen Zwangsmaßnahmen soll es – wie schon ausgeführt – nicht geben. Dementsprechend darf es auch keine grundsätzliche Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs der ärztlichen Zwangsmaßnahmen auf außerstationäre Räume geben. Aus der Praxis kennen auch wir Beispiele, bei denen eine Behandlung im gewohnten Wohnumfeld mit kurzfristiger Verfügbarkeit ärztlichen Personals weniger grundrechtseingreifend wäre. Wir können uns vorstellen, dass eine Ausnahme dann gemacht werden könnte, wenn durch ein Gutachten erwiesen ist, dass eine “Verbringung“ ins Krankenhaus eine erhebliche Gesundheitsgefahr bedeuten und den Nutzen einer ärztlichen Maßnahme aufheben würde und die ärztliche Maßnahme vor Ort notwendig und durchführbar wäre. Selbstverständlich müsste dies dann im Gesetz genau festgelegt werden, aber bitte nicht durch eine Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs in § 1832 Abs. 1 Nr. 7 BGB.
Verbesserungsbedarf in der gerichtlichen Praxis
Entscheidungen zu Unterbringungen, Zwangsbehandlungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen sollten – wie leider in der gerichtlichen Praxis gang und gäbe – nicht als Formularbeschlüsse formuliert werden, nur weil anders die Masse an sonstigen anfallenden richterlichen Aufgaben nicht zu bewältigen ist. Dies entspricht unserer Auffassung nicht dem gerichtlichen Standard in anderen (derart grundrechtsrelevanten) Rechtsgebieten und wird der Bedeutung der Entscheidungen gerade aus Betroffenensicht nicht gerecht.
Auch aus diesem Grund ist zwingend eine deutliche Erhöhung der Pebb§y-Basiszahlen erforderlich. Schon die Pebb§y- „Basiszahlen“ von 114 Minuten für neu eingehende Betreuungsverfahren und 104 Minuten in Unterbringungsverfahren (wozu die Verfahren zur Genehmigung und Anordnung ärztlicher Zwangsmaßnahmen gehören), sind rechtstaatlich abwegig. Die Tatsache, dass es nach den Akten- und Statistikordnungen für Unterbringungsentscheidungen im Wege der einstweiligen Anordnung keinen neuen Zeitansatz für die Hauptsache gibt, ist schlicht nicht nachvollziehbar und zeigt einmal mehr die Unkenntnis der Exekutiven bei der Bemessung der Personalbemessungszahlen für richterliche Tätigkeiten. Vorbereitung und persönliche Anhörung mitsamt der Pflicht zum persönlichen Eindruck erfordern sowohl in Betreuungs- und erst recht in Unterbringungsverfahren äußerst viel richterliche Dienstzeit, insbesondere zum Erfassen und Berücksichtigen von Nuancierungen und möglichen Entwicklungen unter Berücksichtigung der Einschränkungen der betroffenen Personen.
Zudem ist das Thema der Fachlichkeit von Richter:innen, Verfahrenspfleger:innen und Betreuer:innen von besonderer Bedeutung.
Wir fordern die Förderung und Verstetigung von Fachlichkeit in Betreuungsgerichten und im Betreuungswesen im Allgemeinen, besonders dringlich ist dies bei der Anwendung von Zwang. Betreuungs- und betreuungsgerichtliches Unterbringungsrecht darf nicht länger ein Schattendasein in der Justiz führen und benötigt in jeder Hinsicht mehr Wertschätzung. Wir sehen die Notwendigkeit für besondere Qualitätsanforderungen für Betreuungsrichter:innen, und wir fragen auch: Warum gibt es keine Fachanwaltsanerkennung für Betreuungs- und Unterbringungsrecht?
Vergütungsrechtliche Gleichstellung von Verfahrenspfleger:innen mit Verfahrensbeiständen
Damit im Zusammenhang steht die (gesetzliche) Konkretisierung der Eignung von Verfahrenspfleger:innen (jedenfalls) bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen, wie auch bei sonstigen Unterbringungsverfahren. Kriterien analog denen des § 158a FamFG zu Verfahrensbeiständen – wie eine Benennung der Rechtsgebiete, auf denen Kenntnisse vorhanden sein müssen – sollten ins Gesetz aufgenommen werden. Dazu gehört auch eine angemessene Vergütung, diese könnte sich ebenfalls an den Regeln für Verfahrensbeistände (§ 158c FamFG) orientieren. (Zur Illustration ein Beispiel aus der Praxis: Eine junge Frau wird mit 17 Jahren untergebracht nach § 1631b Abs. 1 BGB, der Verfahrensbeistand erhält pauschal 550 Euro für jedes Unterbringungsverfahren. Ist sie 18 Jahre alt und soll weiter (oder erneut) nach § 1831 Abs. 1 BGB untergebracht werden, erhält die Verfahrenspflegerin im betreuungsgerichtlichen Verfahren 39,- Euro als Stundensatz.)
Die Anwendung von Zwang wirklich nur als ultima ratio
Wenn auch außerhalb des betreuungsgerichtlichen Bereichs: Wichtig für die Situation der betroffenen Menschen ist eine „Kultur der Vermeidung von Zwang“ und die damit in direktem Zusammenhang stehende Verbesserung der Qualität in den Krankenhäusern. So müssten Alternativen zu Unterbringung, freiheitsentziehenden Maßnahmen und Zwangsbehandlungen auch baulich und personell real vorgehalten werden. Ferner sind (s.o.) fachliche Standards beim Thema „Überzeugungsversuche“ erforderlich, zu entwickeln und auch einzuhalten. Es ist aus rechtsstaatlicher Sicht kaum zu ertragen, dass staatlich (gerichtlich) verordneter Zwang in nur mittelbar staatlichen oder sogar privaten Krankenhäusern exekutiert wird, welche dem Kostendruck der Krankenhausfinanzierung oder der Aktionär:innen und Gesellschafter:innen der Krankenhausgesellschaften unterworfen sind.
Die Fachgruppe der Neuen Richtervereinigung hat sich im Jahre 2023 gebildet, um relevante Fragen des Betreuungsrechts auf der Grundlage der Ziele der NRV zu diskutieren und öffentlich Stellung zu nehmen.