Offener Brief an die hessische Ministerin für Justiz Kühne-Hörmann
Sehr geehrte Frau Kühne-Hörmann,
die Neue Richtervereinigung wendet sich auf diesem Wege an Sie, um nochmals mit Nachdruck deutlich zu machen, dass die hessische Justiz mittlerweile dermaßen überlastet und heruntergewirtschaftet ist, dass nicht nur die Arbeitsmotivation aller in der Justiz Tätigen, sondern auch deren Gesundheit akut gefährdet ist.
Wir nehmen Ihre Äußerungen im Magazin „Der Spiegel“ vom 9.1.2022 zur „fehlenden Digitalisierung“ zum Anlass darauf hinzuweisen, dass Abhilfe der festgestellten Mängel nicht etwa durch Digitalisierung erfolgen kann, wie Sie offenbar meinen, sondern nur durch sofortige Personalverstärkung sowohl im Bereich der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, aber auch im Bereich der Wachtmeisterinnen und Wachtmeister, Serviceeinheiten sowie Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger.
Anscheinend sind die Inhalte der Brandbriefe des Landgerichts Darmstadt vom 20.12.2021, des Landgerichts Frankfurt vom 20.11.2021 und die Stellungnahme des Präsidenten des Oberlandesgerichts vom 29.12.2021 nicht deutlich genug bei Ihnen angekommen. Ergänzend ist auf einen Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 3.1.2022 über die „Personalnot am Amtsgericht“ in Frankfurt hinzuweisen. Bezeichnenderweise beklagt der dortige Vizepräsident heute auch eine der Fehlentwicklungen der Digitalisierung, die die Personallage zurzeit sogar noch verschärft, wenn er “dringend technische Unterstützung“ fordert, „um die ab 1.1.2022 eingehenden verpflichtenden elektronischen Schriftsätze elektronisch weiterleiten zu können.” Aktuell, so der Vizepräsident des Amtsgerichts weiter, müsse alles ausgedruckt werden, “was organisatorisch und ökologisch eine Katastrophe ist.” Genau davor hatte die NRV bereits vor 16 Jahren (!) gewarnt (NRV-Hesseninfo Januar 2006, S. 27, zur Einführung des Ektronischen Gerichtsbriefkastens vor der Einführung von E-Akten). Damals wurde diese Kritik aus dem HMdJ noch als „außerordentlich untunlich“ zurückgewiesen.
Unabhängig davon herrscht seit Jahren in allen Bereichen der Justiz eine Überlastung und Arbeitsverdichtung, die nicht mehr hingenommen werden kann. Wir können mittlerweile jungen Nachwuchskräften kaum noch empfehlen, in den Justizdienst zu gehen, auch wenn eine hohe Motivation besteht. Es ist ersichtlich auch schwierig geworden, Stellen zu besetzen, weil die Attraktivität der Berufe in der Justiz erheblich nachgelassen hat.
All dies ist das Ergebnis von jahrelangen rigorosen Sparmaßnahmen, die auch durch zwischenzeitliche Neueinstellungen in keinem Fall aufgefangen worden sind, zumal die Coronakrise noch weitere belastende Aufgaben für die Justiz mit sich gebracht hat. Die Digitalisierung wird nach den Erfahrungen in anderen Bundesländern keine Arbeitskraft freisetzen, sondern zumindest in einer Übergangszeit sogar erhebliche Kräfte binden.
Andere Bundesländer versuchen immerhin, die Belastung so zu verringern, dass die Personalstärke, die nach der Personalbedarfsberechnung Pebb§y erforderlich ist, eingehalten wird. Dabei besteht weitgehend Einigkeit, dass Pebb§y aufgrund der Erhebungsmethode allenfalls einen Mindestbedarf am untersten Rand abbildet. Deswegen fordern wir auch für Hessen, dass als Sofortmaßnahme eine Personalausstattung sichergestellt wird, die – anders als zur Zeit – in allen Gerichtsbarkeiten wenigstens diesen absoluten Mindestbedarf nach Pebb§y abdeckt.
Mit freundlichen Grüßen
Für das Sprechergremium der NRV Hessen
Guido Kirchhoff