Interdisziplinarität in der Justiz
Ein Aufriss über – insbesondere gesetzgeberische – Voraussetzungen eines Transfers disziplinfremden Wissens in die Justiz
Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass sich die Kenntnisse von Richter*innen, Staatsanwält*innen und auch Rechtsanwält*innen nicht auf rein rechtliche Aspekte beschränken sollten, wenn Lebenssachverhalte adäquat erfasst und ein den Besonderheiten der Fallsituationen angemessener Umgang mit den Beteiligten gesichert werden soll. Es werden in vielerlei Hinsicht Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen aus anderen Disziplinen benötigt, um den spezifischen Anforderungen, die sich aus unterschiedlichen beruflichen Aufgabenstellungen ergeben, Rechnung tragen zu können.
Diese Problemstellung, nämlich in der Rechtsprechung regelmäßig Rechtskenntnisse mit dem Fachwissen anderer Disziplinen verknüpfen zu müssen, soll fortan unter dem Begriff der Interdisziplinarität in der Justiz verstanden werden.
Diese Problemstellung ist komplex. Denn der Erkenntnis- und Veränderungsbedarf betrifft mindestens drei unterschiedliche Komplexe. Diese hängen zwar miteinander zusammen, folgen jedoch ihren je eigenen Logiken. Diese drei Komplexe sollen im Weiteren unter den Begriffen Inhalte, Vermittlung und Implementation behandelt werden.
Um solche Zusammenhänge, ausgehend von der Implementation, kurz zu veranschaulichen: Spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten werden für die Wahrnehmung bestimmter Geschäftsaufgaben im Gericht und in der Staatsanwaltschaft schon heute vom Gesetz in einigen Bereichen ausdrücklich gefordert, zum Beispiel in § 37 JGG. Allerdings wird sich wohl Einvernehmen darüber erzielen lassen, dass die Verteilung richterlicher Geschäfte vor Ort dieser – wie auch anderer, vergleichbarer – Vorschriften nur selten entspricht. So ist nirgendwo ausgeführt, welche speziellen Kenntnisse oder Fähigkeiten als erforderlich angesehen werden. Noch viel weniger ist festgelegt, wo und wie diese erlangt werden können: Was sollte bereits im Studium, was im Referendariat, und was im Rahmen praxisbegleitender Fortbildung erworben werden, mit welcher Didaktik, und mit welchem Nachweis? Im Einzelnen dürfte dies unter anderem von den ganz unterschiedlichen Inhalten abhängen, die je nach Anforderung an die Justiz das Wissen um theoretische Grundlagen ebenso wie den Erwerb praktischer Techniken und die Verarbeitung eigener Erfahrungen umfasst.
Interdisziplinarität in der Justiz erfordert das Zusammendenken und das Zusammenwirken unterschiedlicher Disziplinen, Professionen und Institutionen auf Landes- und auf Bundesebene.
In der täglichen Praxis sieht sich Justiz der Herausforderung ausgesetzt, materielles Recht und Verfahrensrecht auf Sachverhalte anzuwenden, die ihrerseits oft Spezialkenntnisse erfordern. Um den wechselseitigen Transfer zu fördern, der erforderlich ist, Transformationsprozesse professions- und institutionsspezifischer Anforderungen zu ermöglichen und so einen Austausch über die Grenzen sowohl unterschiedlicher Disziplinen als auch unterschiedlicher Institutionen hinweg zu eröffnen, bedarf es eines gemeinsamen Forums. Dies soll hiermit angestoßen werden.
<link file:2648 download file>Inhalte
<link file:2650 download file>Vermittlung
<link file:2649 download file>Implementation
Zusammenführungen
Die Rolle des Richters
Die Entfaltung der Anforderung an die Interdisziplinarität in der Justiz in die drei Bereiche der Inhalte, der Vermittlung und der Implementation veranschaulicht, dass sich eine dieser Fragen sinnvoll nicht ohne die andere behandeln lässt.
Zusammengeführt werden die drei Bereiche in der Person des Richters, in dem Rollenverständnis, das ihm von der Gesellschaft zugewiesen wird und das er als sein berufliches Selbstverständnis übernimmt. Hiervon dürfte entscheidend der Grad der Motivation abhängen, Neugierde und Zeit für außerjuristische Fragestellungen und interdisziplinären Wissenserwerb aufzuwenden.
Interdisziplinarität als Projekt und als Aufgabe
Die Forderung nach umfangreicheren Kenntnissen wird in verschiedenen Bereichen immer wieder und immer öfter erhoben. Gerade wird sie im Familienrecht intensiv diskutiert. Im Zusammenhang mit dem StORMG ging es um eine bessere Qualifikation der Jugendrichter, und zuvor war mit § 22 Abs.6 GVG eine Qualifikationsanforderung an Richter in Insolvenzsachen begründet worden. Folgt man den vorstehend skizzierten Überlegungen, wird sich durch die Aufnahme einzelner ergänzender Anforderungen an die richterliche Qualifikation nichts Wesentliches ändern (können). Erforderlich ist ein umfassend angelegtes Projekt, vergleichbar der Digitalisierung der Justiz. Wie dieses, so wird auch das Thema der Interdisziplinarität in der Justiz als andauernde Forderung und Aufgabe bestehen bleiben.
Der Sinn dieser Tagung
Eine eintägige Tagung kann dies alles nur anreißen. Sie kann Adressaten aus unterschiedlichen Professionen ansprechen und versuchen, sie zur Bewältigung der Aufgabe Interdisziplinarität in der Justiz zusammenzuführen. Denn eine wirkliche Alternative zu einer entsprechenden Fortentwicklung der Rechtsprechung wird es auf Dauer nicht geben. In einer sich immer weiter spezialisierenden Welt kann sich die Justiz in ihrer Funktion, verbindlich urteilen zu müssen, nicht auf reine Rechtsfragen reduzieren.
Diesem Ansatz folgend sollte der Input seinerseits jeweils Aspekte aus mindestens zwei Bereichen miteinander verknüpfen, sei es als Problemstellung und Lösungsoption, oder als Beschreibung einer gelungenen Verschränkung – wie auch immer.
Es wird wesentlich von der Eigendynamik der Veranstaltung abhängen, ob als Output mehr die Vernetzung der Teilnehmenden untereinander oder aber ein Plädoyer für mehr Interdisziplinarität, einzelne Thesen und/oder Forderungen oder aber ein erster Anstoß für eine weitere Institutionalisierung einer auf Interdisziplinarität in der Justiz ausgerichteten Zusammenarbeit mehrerer Professionen im Sinne einer Art Meta-Change-Managements stehen wird.
Ruben Franzen
Mitglied des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung (NRV)