GesE zur Förderung von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichten
Stellungnahme zum Referentenentwurf
In der Tat machen die seit 2013 gesammelten Erfahrungen aus der Anwendung der Videokonferenztechnik in Rechtssachen eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Bestimmungen erforderlich. Die Erfahrungen insbesondere aus der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Videoverhandlungen in Rechtssachen durchaus sinnvoll eingesetzt werden können, sie erweitern die Möglichkeiten der Gerichte. Es haben sich aber auch eine Reihe von rechtlichen Erschwernissen gezeigt, die nicht immer einen sachlichen Grund haben. Deswegen ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass die Möglichkeiten für Videoverhandlungen erweitert und deren Durchführung erleichtert werden sollen.
Vorweg und unabhängig von den Bemerkungen zu den einzelnen Aspekten, ist aber auf Folgendes hinzuweisen: Damit überhaupt die Ziele des Gesetzentwurfes erreicht werden können, müssen die technischen Voraussetzungen in den Ländern geschaffen werden. Letztlich müsste wohl jeder Gerichtssaal in Deutschland über die entsprechende Technik verfügen. Denn nach unserer Erfahrung ist es nicht selten so, dass sich an einem Verhandlungstag (vollständige) Videoverhandlungen, hybride Videoverhandlungen und (vollständige) Präsenzverhandlungen abwechseln. Da häufig nur in einzelnen Sitzungssälen Konferenztechnik zur Verfügung steht, müssen diese für einzelne Verhandlungen jeweils zugeteilt werden. Hier entstehen dann Engpässe, wenn es zu wenig „Technik“ gibt.
Häufig kommt es auch während der Verhandlungen zu (unvorhergesehenen) technischen Problemen. Dann ist ein zügiger Support unerlässlich, der derzeit vielerorts nicht zur Verfügung steht. Auch die vorgesehene Möglichkeit, aus dem eigenen Dienstzimmer zu verhandeln – soweit alle Beteiligten virtuell teilnehmen – hilft insofern nicht, da es auch dort nicht überall die nötige Technik gibt. Zudem fehlt oft einer Übertragungsmöglichkeit (sowohl Raum als auch Ausstattung), um die Öffentlichkeit herzustellen. Im Übrigen ist ungeklärt, wie in einem solchen Fall gegebenenfalls erforderliche sitzungspolizeiliche Maßnahmen wahrgenommen werden sollen.
Zu den einzelnen Maßnahmen:
Konsequent ist es, dass das Gesetz in § 128a ZPO zukünftig von „Videoverhandlung“ spricht und die etwas umständliche Formulierung „Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung“, die „zeitgleich“ zu erfolgen hat, aufgeben wird.
Allerdings erwarten wir nicht von allen in dem Entwurf vorgesehenen Regelungen eine Verbesserung der prozessualen Situationen.
- Die geplante Neufassung des § 128a ZPO RefE hat gute Aspekte, erscheint aber noch nicht in allen Punkten gelungen:
Es ist gut, dass zukünftig die Videoverhandlung allein auf Anordnung, also auf einer prozessleitenden Verfügung, erfolgt und damit der bisher noch nötige gesonderte Beschluss entfällt.
Als problematisch sehen wir jedoch an, dass auf übereinstimmenden Antrag die Videoverhandlung durchgeführt werden „soll“ und gegen einen begründeten Ablehnungsbeschluss eine sofortige Beschwerde zulässig wird. Diese Einschränkung des Ermessens bei der Prozessleitung ist zu weitgehend.
Die Regelung steht wohl vor dem Hintergrund, dass in vielen Fällen Gerichte ohne nähere Begründung von Videoverhandlungen abgesehen haben, auch wenn die Beteiligtenvertreter das nachdrücklich angeregt haben. Dahinter mag hier und da auch eine gewisse Skepsis der Kolleginnen und Kollegen gegen dieses Instrument generell stehen, der man wohl begegnen will. Schon diese Annahme spricht von einem Misstrauen, das unangebracht ist. Zudem geht es in dieser Form zu weit:
– Der Grundsatz, dass gerichtliche Verhandlungen bei Anwesenheit aller Beteiligter in einem Gerichtssaal stattfinden, sollte nicht relativiert werden. Die mündliche Verhandlung in Anwesenheit aller Beteiligter ist eines der zentralen Qualitätselemente der Justiz. Das persönliche Gespräch ermöglicht oft erst ein wirkliches Verständnis der Fälle und führt zu Erkenntnissen und Ergebnissen, die anders nicht erzielbar wären. Auch das Erlebnis insbesondere der nichtprofessionell Beteiligten von dieser Form des rechtlichen Gehörs erfüllt oft ganz wesentlich die Erwartungen und führt zur Zufriedenheit und zur Befriedung. Das ist eine langjährige von Kolleginnen und Kollegen aller Gerichtsbarkeiten immer wieder gemachte Erfahrung, durch alle Richter*innengenerationen hindurch. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht auch eine namhafte Zahl von Fällen gibt, für die die Videoverhandlung gut geeignet ist. Die vorgesehene Regelung verliert hier aber das nötige Maß.
- Die vorgesehenen § 128a Abs. 2 Sätze 2 und 3 (und Abs. 7) verkennen, dass es durchaus viele Fälle geben kann, in denen die Gerichte aus guten Gründen keine Videoverhandlungen führen wollen, auch wenn die Beteiligten – wohl insbesondere deren Vertreter*innen – das gerne hätten. Denn der wesentliche Effizienzgewinn solcher Verhandlungen dürfte nicht bei der Justiz liegen, sondern bei den anderen Prozessbeteiligten, insbesondere bei der Anwält*innenschaft, für die es wirtschaftlich gewinnbringend sein mag, Zeit und Reisekosten zu sparen.
Außerdem mag man bedenken, dass solche Anträge auch bewusst zur Verzögerung eingesetzt werden können.
Insbesondere die Beschwerdemöglichkeit führt zu einer Erschwernis und einer Verzögerung, die in keinem Verhältnis zum angestrebten Ziel steht. An dieser Stelle, wie auch an vielen anderen Stellen kommt man nicht darum herum, auf eine dem jeweiligen Fall angemessene richterliche Verfahrensführung zu vertrauen. Die durch die geplante Soll-Regelung vorgesehene Einschränkung des Ermessens in der Verfahrensführung lehnen wir ab.
– Außerdem stimmt auch das Verhältnis von § 128a Abs. 2 zu Abs. 3 des Entwurfes nicht. Während das Gericht ein Absehen von der Videoverhandlung begründen muss, können die Beteiligten das – fristgebunden – ohne Begründung beantragen.
– Sinnvoll erscheint es, in das Gesetz Kriterien aufzunehmen, wann jedenfalls von einer Videoverhandlung und oder der Teilnahme abgesehen werden kann. Das könnten z.B. sein:
- Krankheit oder Behinderung (eines Beteiligten), die zu übermäßigen Einschränkungen in der Wahrnehmung bei einer Verhandlung oder Anhörung im Wege der Videokonferenz führen.
- Eine erwiesenermaßen leistungsschwache Internetverbindung, die häufige Störungen oder Verbindungsabbrüche erwarten lässt.
- Eine Präsenzverhandlung (für alle Beteiligten) lässt sich schneller und leichter als eine Videokonferenz anberaumen.
- Nach der Einschätzung des Gerichts ist der persönliche Eindruck von Beteiligten (einschließlich Zeugen) erforderlich.
- Die Beteiligung sehr vieler Personen an der Verhandlung.
- Die Notwendigkeit, sehr komplexe tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse zu erörtern.
- Im Hinblick auf diese Kriterien mag eine Begründungspflicht für eine Ablehnung eines übereinstimmenden Antrags vorgesehen werden.
- Es muss aber als extrem systemfremd bewertet werden, dass gegen die Ablehnung der Durchführung einer Videoverhandlung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde eröffnet sein soll. Andere verfahrensleitende Maßnahmen des Gerichts (wie z. B. Beweisbeschlüsse) unterliegen grundsätzlich keiner Beschwerde. Die Beschwerdemöglichkeit wirkt wie ein Disziplinierungsmittel. Auch das ist unangebracht. Auf eine gesonderte Rechtsmittelmöglichkeit muss daher verzichtet werden. Wenn sich in der Rechtsmittelinstanz für die instanzbeendende Entscheidung herausstellen sollte, dass
- eine Videoverhandlung zu Unrecht abgelehnt wurde
- sich daraus für einen Beteiligten Nachteile ergeben haben
- und die Entscheidung darauf beruht
mag es dann prozessuale Konsequenzen haben. Das sollte als Korrektiv völlig ausreichen.
– Soweit gem. § 128a Abs. 4 ZPO – RefE es Mitgliedern des Spruchkörpers gestattet werden kann, per Video an Verhandlungen teilzunehmen, sollte das nur möglich sein, wenn auch alle anderen Beteiligten per Video an der Verhandlung teilnehmen. Soweit einige oder gar alle Beteiligten im Saal in Präsenz anwesend sind, muss es eine Selbstverständlichkeit sein, dass auch das Gericht vollständig anwesend ist. Es wäre ansonsten auch die Wahrnehmung dessen, was in der Verhandlung erfolgt, wie die Gespräche ablaufen und der Eindruck, den die Mitglieder des Spruchkörpers von den Beteiligten haben, substantiell verändert. Wie sollen die Richter:innen gleichberechtigt ein Ergebnis der Verhandlung, gar ein Ergebnis der Beweisaufnahme miteinander diskutieren, wenn sie völlig unterschiedliche Eindrucksformen hatten? Im Übrigen wird hier nicht die arbeitsrechtliche Besonderheit berücksichtigt, dass der Spruchkörper aus nur einem Berufsrichter und zwei Laienrichtern besteht, während eine ähnliche Konstellation beim Sozialgericht zu einer Beibehaltung der Sonderregelung führt. Auch vor diesem Hintergrund ist die Regelung zu überdenken.
- Erleichtert wird die Anordnung von Videokonferenzen durch die Aufgabe der Kostenpauschale 9019 KV GKG. Der Sinn einer solchen Pauschale ist den Verfahrensbeteiligten nicht zu vermitteln.
- Bürgernah erscheint es, dass es nach dem Entwurf möglich sein soll, Anträge auf der Rechtsantragsstelle per Videokonferenz zu beantragen, § 129a Abs. 2 ZPO-RefE
An diesem Punkt zeigt sich, dass der Bundesgesetzgeber sehr schnell eine echte Möglichkeit schaffen muss, damit Bürgerinnen und Bürger am elektronischen Rechtsverkehr wirklich teilnehmen können. Sonst wird diese Möglichkeit daran scheitern, dass die Identität der antragstellenden Person online nicht zweifelsfrei zu klären ist und etwa eine Versicherung an Eides statt i.S.v. § 294 ZPO nicht möglich ist. Die Identifikation durch einen Personalausweis, der vor die Kamera gehalten wird (Bl. 24 RefE), ist nicht ausreichend, da die Sicherheitsmerkmale des Ausweises nicht geprüft und Rasuren oder andere Manipulationen nicht erkannt werden können. Es braucht also zwingend eine Möglichkeit, die Identität auf digitale Weise zu klären, wie das bereits in anderen Ländern gemacht wird (z.B. in Dänemark). Das ist umso mehr der Fall, als z.B. auf die persönliche Unterschrift bei einem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe verzichtet werden soll (Bl. 32 RefE).
Das „Elektronische Bürger- und Organisationspostfach (eBO)“ ist dazu nicht geeignet. Es ist – dem Namen zum Trotz — kein Bürgerpostfach. Es gibt für Bürgerinnen und Bürger keine einfache und kostengünstige Möglichkeit, Zugang zu diesem Postfach zu erhalten. Dies muss das nächste große Reformprojekt sein, wenn die digitale Justiz nicht stecken bleiben soll.
- Die geplante Regelung zu § 141 ZPO RefE erscheint insoweit konsequent.
- Zu begrüßen ist grundsätzlich, dass die Videokonferenz zum Zweck der vorläufigen Protokollaufzeichnung nach § 160a ZPO-RefE aufgezeichnet werden können soll.Praxisgerecht wird diese Regelung aber nur dann, wenn die Parteien und das Rechtsmittelgericht, wenn sie dies beantragen, auf die Übersendung eines Datenträgers mit der audio(visuellen) Aufzeichnung verwiesen werden können. Datenschutzrechtlich konform könnte vorgesehen werden, dass die Datenträger ausschließlich an die professionellen Rechtsanwender versandt werden und sie im Übrigen nur bei Gericht eingesehen oder angehört werden können. So wird erreicht, dass allen Beteiligten dieselbe Aufzeichnung zur Verfügung steht, ohne dass dies einen größeren – und zumeist in der Sache nicht förderlichen – Verwaltungsaufwand nach sich zieht.
Außerdem muss sichergestellt werden, dass solche Aufzeichnungen nicht veröffentlich werden können.
- Die geplante Änderung des § 193 GVG RefE erscheint kritisch. Es liegt auf der Hand, dass in einer „Videoberatung“ ein pragmatischer Vorteil liegt. Es hat sich uns allen auch während der Corona-Pandemie gezeigt, dass Beratungen aller Art auch über Videokonferenzen möglich sind. Jedoch ist wohl ebenso deutlich geworden, dass diese Form der Gespräche ihre Grenzen hat. Angesichts der großen Bedeutung, die die Beratungen in kollegialen Spruchkörpern haben, ist hier Vorsicht geboten. Deswegen sollte diese Form der Beratung nur „in geeigneten Einzelfällen“ möglich sein. Zudem sollte es nur im Einverständnis aller zur Entscheidung berufener Richter:innen zulässig sein, wenn auch alle im Video sind, damit die Gleichwertigkeit der Beratung gewahrt bleibt.
Abschließend muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass in vielen Ländern viele Gerichte in ihrer technischen Ausstattung noch weit von dem entfernt sind, was notwendig ist, um in der wohl angestrebten Form und Häufigkeit Videoverhandlungen durchzuführen.
Bevor also der Entwurf – in welcher Form auch immer – Wirklichkeit werden kann, muss die Ausstattung der Gerichte und deren technischer Support in großem Umfang und vor allem sehr zügig verbessert werden. Es ist aus unserer Sicht zwingend notwendig, dass hierzu eine bundesweite und genaue Bestandsaufnahme erfolgt und ein bundesweit einheitlicher Standard definiert wird. Es nützt der Justiz überhaupt nichts, wenn es (nur) einige technisch gut ausgestattete Gerichte gibt. Es muss für alle Gerichte und für alle Säle ein guter technischer Standard definiert werden, verbunden mit einem klaren Zeitplan, wann dieser umgesetzt sein muss.
Ansonsten dürfte der Gesetzentwurf kaum gelebt werden können.