Erhalt des Widerspruchsverfahrens

8. Juni 2009| LV Niedersachsen

An das
Niedersächsische Ministerium für Inneres, Sport und Integration
Postfach 221
30002 Hannover

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung, des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum Sozialgerichtsgesetz und des Niedersächsischen Beamtengesetzes

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Neue Richtervereinigung nimmt zu dem mit Schreiben vom 28. April 2009 übersandten Gesetzesentwurf wie folgt Stellung:

Die Neue Richtervereinigung lehnt den Gesetzentwurf ab. Mit Nachdruck spricht sie sich dagegen aus, Widerspruchsverfahren dauerhaft wegfallen zu lassen. Zumindest dürfen die Vorschläge der Expertenkommission zur partiellen Wiedereinführung der Widerspruchsverfahren in einzelnen Rechtsgebieten nicht verworfen werden.

Der Gesetzentwurf genügt nicht den Begründungsanforderungen für eine landesrechtliche Ausnahme von der bundesgesetzlichen Regel (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ein effektives Widerspruchsverfahren ist ein bewährtes Stück Rechtsstaatlichkeit, das Qualität, Objektivität und Bürgernähe der Verwaltung sichert. Es dient nach wie vor der Entlastung der Verwaltungsgerichte, der Selbstkontrolle der Verwaltung und dem Rechtschutz des Bürgers.

Der Hinweis, eine dauerhafte Überlastung der Verwaltungsgerichte sei ausgeblieben, ist zu undifferenziert. Insbesondere der Wegfall der Sozialhilfesachen und der Rückgang der Asylverfahren führten zu dem festgestellten Rückgang der Eingangszahlen in der Zeit von 2004 bis 2008. In den Jahren nach großflächiger Abschaffung der Widerspruchsverfahren wurde dieser Rückgang durch drastische Anstiege der Eingangszahlen in einzelnen Sachgebieten so gar überkompensiert. Vor allem kann bei qualitativer Betrachtung nicht von einer Entlastung der Verwaltungsgerichte gesprochen werden. Vielmehr wurde ein Teil verwaltungsbehördlicher Arbeit – oft schon im Vorfeld eines Prozesses – auf die Gerichte verlagert. Verwaltungsgerichte mutieren von Organen der Rechtskontrolle zu „Reparaturbetrieben“ für Verwaltungsentscheidungen. Aus Sicht der Bürger verschiebt sich in bedenklicher Weise die Grenze zwischen Exekutive und Judikative. Ein zu verzeichnender Anstieg der Unterliegensquote der beklagten Behörden verursacht neben vermeidbaren Kosten auch Vertrauensverluste in die Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung.

Die gebotene Selbstkontrolle der Verwaltung – am besten durch eine übergeordnete Behörde – können die Verwaltungsgerichte nicht leisten. Sie dürfen nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber – wie eine Widerspruchsbehörde – auch die Zweckmäßigkeit und Gleichförmigkeit von Verwaltungsentscheidungen prüfen.

Dem Bürger soll nun dauerhaft ein einfacher, ortsnaher, unbürokratischer und oft kostengünstiger Rechtsbehelf genommen werden, mit dem er ohne Rechtskenntnisse schnell und effektiv sein Recht wahrnehmen kann. Zu gehörigem Unmut und zur Abschreckung hat geführt, dass zeitgleich mit dem Wegfall der Widerspruchverfahren das Kostenrecht geändert wurde, also sofort mit Klageerhebung grundsätzlich Gerichtsgebühren fällig werden. Diese bleiben selbst im Falle einer Klagerücknahme zu einem Drittel bestehen. Die Bürger trauen sich auch seltener zu, ohne Anwalt zu prozessieren als ein Widerspruchsverfahren zu führen. Insbesondere erscheint es widersinnig, die Chance zu versäumen, das Widerspruchsverfahren als modernes Instrument der außergerichtlichen Streitschlichtung/Mediation auszubauen, welches in anderen Rechtschutzbereichen allgemein propagiert wird.

Der in der Gesetzesbegründung angeführte Strukturwandel von einer „Obrigkeitsverwaltung zur Verhandlungsverwaltung“ ist widersprüchlich und überzeugt nicht. Bei konsequenter Handhabung entsteht bei den erwähnten Formen des „Abhilfemanagements“ ein ähnlicher Verwaltungsaufwand wie in Widerspruchsverfahren, allerdings mit dem bedenklichen Nachteil der rechtlichen Unverbindlichkeit. Richtigerweise müsste eine moderne bürgerorientierte „Verhandlungsverwaltung“ in das gesetzlich geregelte Widerspruchsverfahren eingebunden werden.

Vorschnell verwirft der Gesetzentwurf die Alternative eines fakultativen Vorverfahrens (Optionsmodell). Hierbei könnte der Bürger an der langfristigen Entscheidungsfindung teilhaben. Vor allem würde endlich Zahlenmaterial zur Akzeptanz des Widerspruchsverfahrens geliefert.

Zumindest wird nachdrücklich gefordert, das Widerspruchsverfahren in den von den Experten vorgeschlagenen Bereichen (Kommunalabgabenrecht, Ausbildungs- und Studienförderungsrecht, Wohngeldrecht, Kinder- und Jugendhilferecht) wieder einzuführen. Anderenfalls erscheint die aufwendig durchgeführte Evaluation binnen der fünfjährigen „Probezeit“ der befristeten Abschaffung der Widerspruchsverfahren als bloße Alibiveranstaltung, zumal der Gesetzesentwurf die dort angeführten Gründe nicht entkräftet. Die angestrebte Modernisierung der Verwaltung ist kein Wert an sich, die bereichspezifische Argumentation nicht überzeugend. Dass auch andere Bundesländer sich auf den bedenklichen Weg der flächendeckenden Abschaffung des Widerspruchverfahrens begeben, macht ihn nicht richtiger.

Mit freundlichen Grüßen

Gerhard Riemann

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