Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der Covid 19 Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (Covid 19 ArbGG/SGG AnpassungsG)

17. April 2020| Bundesvorstand, Stellungnahme

Die Neue Richtervereinigung (NRV) begrüßt, dass die Bundesregierung die Arbeitsfähigkeit der Sozialgerichtsbarkeit während der gegenwärtigen Pandemie stärken möchte und bemüht ist, die Realisierung gerichtlicher Entscheidungen unter den gegenwärtigen Bedingungen zu vereinfachen. Der jetzt vorliegende Entwurf greift allerdings deutlich zu kurz. Die dort vorgesehenen Regelungen sind wenig praxistauglich und werden kaum dazu beitragen, dass die Zahl der zu behandelnden und entscheidenden Fälle gegenüber den jetzigen Möglichkeiten deutlich gesteigert wird. Der Entwurf ist von dem Bemühen gekennzeichnet, die Beteiligung der ehrenamtlichen Richter*innen an der Entscheidungsfindung in der Sozialgerichtsbarkeit auch während der Pandemie um jeden Preis aufrechterhalten. Dies geschieht durch komplizierte Regelungen, die sich in der Praxis kaum als anwendbar erweisen werden und nicht dazu führen werden, dass die Funktionsfähigkeit der Sozialgerichtsbarkeit gegenüber dem jetzigen Stand deutlich verbessert wird. Zwar ist die Beteiligung ehrenamtlicher Richter*innen an der Entscheidungsfindung in der Sozialgerichtsbarkeit ein bewährtes Element, das auf allgemeine Akzeptanz stößt. Jedoch wäre es in den gegenwärtigen Krisenzeiten, die von einer Veränderung des Alltages in nahezu jedem Aspekt und massiven, zum Teil grundrechtsrelevanten Einschränkungen für alle Bürgerinnen und Bürger gekennzeichnet sind, angezeigt, streng zeitlich befristet, auf die Beteiligung der ehrenamtlichen Richter*innen an der sozialgerichtlichen Entscheidungsfindung zu verzichten und verstärkt Entscheidungsmöglichkeiten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorzusehen.

Die in Art.2 § 211 Abs.1 RegEntw. vorgesehene Zuschaltung zweier ehrenamtlicher Richter*innen von jeweils verschiedenen Orten ist zwar in Hinblick auf die räumliche Enge in den Gerichtssälen, die eine Einhaltung des Abstandsgebots deutlich erschwert, zu begrüßen. Sie wird aber technisch nicht ohne Weiteres zu bewerkstelligen sein. Entsprechende technische Infrastruktur ist nicht in allen Bundesländern vorhanden und muss z.T. erst noch aufgebaut werden. Die parallele Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal unter Anwesenheit der Beteiligten bzw. ebenfalls unter elektronischer Zuschaltung der Beteiligten dürfte in der praktischen Umsetzung auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten stoßen. Eine Gerichtsverhandlung im kontradiktorischen Verfahren lässt sich eben nicht so ohne Weiteres in einer Videokonferenz durchführen wie ein Team-Meeting.
Zudem darf bezweifelt werden, dass die oftmals schon älteren ehrenamtlichen Richter*innen alle über die technischen Möglichkeiten und individuellen Fertigkeiten zur Durchführung einer Beratung via Videokonferenz verfügen. Dies vorher unter Wahrung des Gebots des gesetzlichen Richters zu klären und die Zuschaltung per Videoübertragung vorzubereiten, führt eher zu Mehrarbeit in der Sozialgerichtsbarkeit als dass es eine Entlastung beinhaltet.

Es steht zu befürchten, dass die Regelung in der ersten Instanz auch wegen der erweiterten Möglichkeit zum Erlass von Gerichtsbescheiden gemäß Art. 2 § 211 Abs.4 RegEntw weitgehend leer laufen wird.

In der zweiten Instanz besteht die Möglichkeit zum Erlass von Gerichtsbescheiden nicht. Erleichterungen für die Entscheidungsfindung in der zweiten Instanz soll wohl Art.2 § 211 Abs.5 RegEntw vorsehen. Diese Regelung enthält allerdings „Steine statt Brot“. Es erschließt sich schon nicht, warum bei einer Beschlusszurückweisung nach § 153 Abs.4 SGG jetziger Fassung die ehrenamtlichen Richter*innen nicht mitwirken, während dies bei der jetzt vorgesehenen Beschlussstattgabe nunmehr auf einmal der Fall sein soll. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass die in § 153 Abs.4 SGG geregelte Verfahrensvereinfachung gerade darin besteht, dass ein Beschluss im Umlaufverfahren innerhalb eines Hauses ergehen kann. Diese Vereinfachung entfiele, wenn wie vorgesehen auch die ehrenamtlichen Richter*innen in das Umlaufverfahren oder gar das vorherige Anhörungsverfahren einbezogen werden müssen. Ganz abgesehen davon kann eine Entscheidungsform, die ein bis dato nicht gekanntes 5 zu 0 Einstimmigkeitserfordernis enthält, kaum als Verfahrensvereinfachung durchgehen.

Der Entwurf erwähnt zudem die in der gerichtlichen Praxis nicht seltene Teilstattgabe einer Berufung nicht. Es ist aber nicht verständlich, warum eine Entscheidung durch Beschluss nicht auch bei teilweisem Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten im Berufungsverfahren erfolgen können soll. Gleiches gilt, wenn im Berufungsverfahren nach Einbeziehung neuer Bescheide in das Verfahren gemäß § 96 SGG oder Änderung der Klage gemäß § 99 SGG auf die Klage entschieden wird. In diesen Konstellationen liegt ein so enger Zusammenhang zum bisherigen Berufungsverfahren vor, dass auch hier der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung vertretbar sein sollte.

Nicht nachvollziehbar ist es auch, warum die in Art.2 § 211 Abs.6 RegEntw vorgesehene Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auch ohne Zustimmung der Beteiligten auf das Bundessozialgericht beschränkt werden soll und nicht auch die beiden unteren Instanzen betreffen soll.

Nach unserem Eindruck sind die Kolleginnen und Kollegen in der Sozialgerichtsbarkeit alle sehr motiviert, auch unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie den Gerichtsbetrieb fortzusetzen und Bearbeitungsstaus aufgrund der Einschränkungen weitgehend zu vermeiden. Der Gesetzgeber sollte daher den Berufsrichterinnen und Berufsrichtern der Sozialgerichtsbarkeit auch zutrauen, verantwortungsvolle Entscheidungen während der Covid-19-Pandemie ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter zu treffen und streng zeitlich befristet Ausnahmeregelungen im SGG vorsehen, die die Arbeit der Sozialgerichtsbarkeit tatsächlich erleichtern und nicht noch zusätzlich erschweren.

Ansprechpartner für diese Stellungnahme:
Lars Werner, Richter am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht

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