Zwang ist bei ärztlicher Behandlung möglichst zu vermeiden…
„Es bleibt dabei: Zwang ist bei ärztlicher Behandlung möglichst zu vermeiden; seine – ausnahmsweise – Anwendung muss einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen!“
Stellungnahme der Neuen Richter*innenvereinigung (NRV) zur künftigen gesetzlichen Neuregelung nach dem Urteil des BVerfG vom 26.11.2024 zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen vom 16. Mai 2025
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.11.2024 – 1 BvL 1/24 zur Genehmigung einer Entscheidung des rechtlichen Betreuers über ärztliche Zwangsmaßnahmen und zum „Krankenhausvorbehalt“ in § 1832 Abs. 1 Nr. 7 BGB bringt dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf mit sich, und zwar bis zum 31.12.2026.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Beschränkung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen auf eine Vornahme in einem Krankenhaus (Krankenhauszwang) mit Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2. Alt. GG unvereinbar ist und hat dem Gesetzgeber die o.g. Frist gesetzt.
Im Hinblick auf die notwendige Gesetzesänderung weist die Neue Richter*innenvereinigung (NRV) darauf hin, dass eine Umsetzung des Auftrags an den Gesetzgeber zeitnah, aber auch mit großer Sorgfalt und Sensibilität für die Belange der betroffenen Menschen erforderlich ist.
Nach Auffassung der Fachgruppe Betreuungsrecht der NRV sind für eine Gesetzesänderung die nachfolgenden Grundüberlegungen zu beachten:
Kein Einfallstor für eine generelle „Erleichterung“ von ärztlichen Zwangsmaßnahmen
Die NRV nimmt mit großem Respekt die Sorge vieler betroffener Menschen und ihrer Vertretungen sowie von NGOs zur Kenntnis, dass mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit eröffnet sein könnte, die Schwelle für ärztliche Zwangsmaßnahmen zu senken und derartige Maßnahmen in maßgeblich höherer Zahl zuzulassen.
Die NRV hat bereits in ihrer letzten Stellungnahme zu diesem Themenkomplex gefordert, dass es eine Absenkung der Eingriffsschwelle und damit verbunden eine häufigere Anwendung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen in der Praxis nicht geben soll.
Denn bei eingehender Würdigung der Entscheidung vom 26.11.2024 ergibt sich, dass das Bundesverfassungsgericht nicht intendiert hat, die Eingriffsschwelle für die Genehmigung ärztlicher Zwangsmaßnahmen zu senken oder gar generell eine „ambulante Zwangsbehandlung“ zuzulassen.
Das Bundesverfassungsgericht betont die Bedeutung der angemessenen Nachsorge in einem geeigneten Krankenhaus, für die es nur das Äquivalent eines Krankenhausstandards geben dürfe, wobei die Qualität der Nachversorgung „voraussichtlich nahezu erreicht“ werden muss (Rdnr. 155 des Urteils). Ferner muss nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gesichert sein, dass die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit i.S.v. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, die durch einen Krankenhausaufenthalt entstehen würde, durch den Verbleib in der Einrichtung und der Durchführung der Maßnahme dort „vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden könnte“ (a.a.O).
Keine Ausweitung der Zwangsbehandlungsmöglichkeiten auf den rein ambulanten, außerstationären Bereich
Daraus folgt, dass eine ambulante Zwangsbehandlung in der Häuslichkeit oder einer Arztpraxis definitiv nicht in Betracht kommt. Dies muss eine gesetzliche Regelung mithin explizit ausschließen.
Darüber hinaus muss zwingend feststehen, welche Einrichtungen die Kriterien einer krankenhausäquivalenten Behandlung einschließlich der Nachsorge garantieren können. Hierzu bedarf es medizinischer Standards nach Art der medizinischen Leitlinien und einer präzisen, daran entsprechend angelehnten gesetzlichen Formulierung; auch zu dem Zweck, dass es nicht erneut zu Auslegungsfragen bezüglich der gesetzlichen Begriffe kommt (vgl. hierzu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 02.11.2021 – 1 BvR 1575/18, welche damals noch Spielräume bei der Auslegung des klaren Wortlauts gesehen hatte). Die Prüfung, ob die konkrete Einrichtung eine krankenhausäquivalente Versorgung und Nachsorge gewährleisten kann, bleibt – neben den weiteren gesetzlichen Voraussetzungen – aber selbstverständlich dem Einzelfall vorbehalten.
Abwägung im Verfahren mit gutachterlicher Prüfung
Erforderlich ist im Einzelfall eine (weitere) Risiko/Nutzen-Abwägung. Es muss feststehen, dass eine Ausnahme dann und nur dann gemacht werden kann, wenn durch das nach § 321 FamFG einzuholende ärztliche Gutachten erwiesen ist, dass die “Verbringung“ ins Krankenhaus eine erhebliche weitere Gesundheitsgefahr bedeuten würde, es dem Nutzen der ärztlichen Maßnahme zuwiderlaufen würde bzw. der Eingriff in gleicher Weise möglich und weniger belastend ist und die Maßnahme außerhalb des stationären Rahmens überhaupt realisierbar wäre. Selbstverständlich müssten diese Voraussetzungen dann in § 1832 BGB präzise normiert werden.
Die Begutachtung muss sich dann auch auf diese weiteren Voraussetzungen erstrecken und ein entsprechendes Ergebnis erbringen, damit vom Krankenhausvorbehalt im Einzelfall abgesehen werden kann. Leider differenziert § 321 Abs. 1 S. 1 FamFG (und auch § 331 S. 1 Nr. 2 FamFG) hier nicht, sondern spricht beim Gutachtenauftrag nur von der Frage der „Notwendigkeit der Maßnahme“. Dies genügt eindeutig nicht.
Kein Miss- oder Fehlgebrauch von Eilverfahren
Durch die Änderungen dürfen weder Missbrauch noch Fehlgebrauch des Eilverfahrens begünstigt werden. Dies ist verfahrensrechtlich in §§ 331ff FamFG abzusichern.
Die Notwendigkeit einer Eilentscheidung kann sich im Einzelfall durchaus ergeben. Doch kann dies nur für begründete Ausnahmefälle gelten. Denn finden Entscheidungen ausschließlich oder überwiegend im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung oder Genehmigung statt, wird der mit guten Gründen stark ausgestaltete Schutz durch das Hauptsacheverfahren ausgehebelt (vgl. die geringeren Verfahrensanforderungen in § 331 S. 1 Nr. 1-4 und S. 2 FamFG).
In jedem Fall ist für den Bereich der ärztlichen Zwangsmaßnahme die Anwendung von § 332 FamFG auszuschließen, welche die Anordnung und Genehmigung von Zwangsmaßnahmen des Unterbringungsrechts vor persönlicher Anhörung der betroffenen Personen bei besonderer Dringlichkeit ermöglicht. Für diese Regelung besteht für die ärztliche Zwangsmaßnahme kein Bedarf, sondern nur eine Gefahr des Fehlgebrauchs. Dies muss gesetzlich geändert werden.
Ferner sieht die NRV auch keine Erforderlichkeit für die Abweichung vom Krankenhausvorbehalt in Verfahren der einstweiligen Anordnung (vom BVerfG in Rdnr. 162 des Urteils ausdrücklich offengelassen). Bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb des Krankenhauses soll die einstweilige Anordnung nicht angewandt werden. Wenn ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht, sind der besondere Schutz und die Nachsorge im Krankenhaus unerlässlich.
Eine Reduzierung von Eilverfahren setzt aber auch die – äußerst wünschenswerte – Möglichkeit einer schnellen Gutachtenerstellung voraus, die eine einstweilige Anordnung oder einstweilige Genehmigung sehr häufig überflüssig macht; das ist allerdings eine Strukturfrage (Verfügbarkeit von qualifizierten „schnellen“ Gutachter*innen). Hier wäre die Erstellung bzw. Erweiterung von medizinisch-fachlichen Leitlinien hilfreich (wie z.B. die S2k-Leitlinie 051-029 „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“, welche leider für Betreuungs- und Unterbringungsverfahren nicht verfasst wurde), sowie eine Verbesserung der medizinischen Fortbildung unerlässlich.
Keine Übertragung der Kontrolle von Zwangsbehandlungen auf das Strafrecht
Es muss zudem gesichert sein, dass die tatsächliche Durchführung von ärztlichen Maßnahmen gegen den Willen von Patienten und Patientinnen auf die (häufig gar nicht eingreifenden) Rechtfertigungstatbestände der Nothilfe (§ 32 StGB) oder des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) in (vermeintlichen) Notfällen nicht zum Ersatz für ein geordnetes gerichtliches Verfahren wird.
Es besteht (v.a. in der medizinischen Praxis) die Gefahr, dass je höher die Anforderungen an gerichtliche Verfahren werden, immer mehr Zwangsbehandlungen ohne betreuungsgerichtliche Beteiligung in die (vermeintliche) Nothilfe oder den (vermeintlichen) Notstand „verschwinden“. Dies kann weder für die Krankenhäuser (vgl. die straf- und zivilrechtlichen Haftungsgefahren) noch für die betroffenen Personen und insbesondere nicht für die Wahrung rechtsstaatlicher Transparenz bei diesen massivsten Grundrechtseingriffen zulässig sein.
Die Bedeutung der Überzeugungsversuche stärken
Zusätzlich ist die Bedeutung der Überzeugungsversuche nach § 1832 Abs. 1 Nr. 4 BGB durch ein Nachschärfen der Gesetzesformulierung hervorzuheben. Der Überzeugungsversuch hat aufgrund der BVerfG-Rechtsprechung eine hohe Relevanz und muss in der Praxis ernsthaft betrieben werden. Die Aufklärungspflicht in § 630e BGB und der Überzeugungsversuch in § 1832 Abs. 1 Nr. 4 BGB sind unterschiedliche Rechtshandlungen.
Nichtsdestoweniger ist die Rolle der behandelnden Ärzt*innen zentral: Wir sehen sowohl die behandelnden Ärzt*innen als fachlich kompetente Personen, die zunächst die betroffenen Personen und Betreuer*innen (bzw. Bevollmächtigten) aufklären und die Behandlung schließlich auch „anbieten“ (müssen), als auch die Betreuer*innen (bzw. Bevollmächtigten) im Rahmen ihrer Besprechungspflicht in der Verantwortung, auf die betroffenen Menschen zuzugehen und bei entsprechender eigener Überzeugung für die Maßnahme zu werben. Ärzt*innen sind aber schon aufgrund ihrer Fachkompetenz gehalten, die Überzeugungsversuche zusätzlich zum Behandlungsangebot zu machen und ggf. auch zu wiederholen oder die Betreuer*innen (bzw. Bevollmächtigten) zu befähigen, ihrerseits einen oder mehrere fachlich fundierte Überzeugungsversuche zu unternehmen. Nur die Ärzt*innen können aus eigener Fachkompetenz, Vor- und Nachteile, Risiken, Chancen und Nebenwirkungen fachlich darlegen. Im Falle der öffentlich-rechtlichen Zwangsbehandlungen nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen sind sie im Übrigen häufig die einzigen, die im Sinne des Gesetzes Überzeugungsversuche leisten können.
Betreuer*innen müssten aber auch die Möglichkeit haben, in dichteren Abständen vor Ort zu sein, um überhaupt Überzeugungsversuche durchführen zu können oder die Rechte der betroffenen Personen bei den Aufklärungen und Überzeugungsversuchen wahrnehmen zu können.
Die Rolle der Betreuer*innen angemessen berücksichtigen
Die Betreuer*innen trifft nicht nur die Besprechungspflicht und die Pflicht, sich selbst ein Bild von der Situation zu machen, sondern sie tragen nach geltendem Recht die letzte Verantwortung, wenn sie sich zu einer Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme gegen den natürlichen Willen ihres/ihrer Betroffenen entschließen. Dies muss von Ärzteschaft und Justiz in vollem Umfang beachtet werden.
Die Anwendung von Zwang als ultima ratio betonen
Es gilt, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu stärken. Im Rahmen der Neuregelung sollte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gesetz deutlicher als bisher hervorgehoben werden. Eine klärende Neuformulierung, die dazu beiträgt, dass Zwang noch stärker vermieden wird, halten wir für notwendig.
Einbeziehung von Selbstvertreter*innen in das Gesetzgebungsverfahren
Im Hinblick auf die Grundrechtsrelevanz von ärztlichen Zwangsmaßnahmen erscheint es der NRV zwingend, dass im Gesetzgebungsverfahren nicht nur ein multiprofessionelles Panel von externen Expert*innen, sondern eben auch Selbstvertreter*innen als „Expert*innen für sich selbst“ gehört und beteiligt werden. Eine solche Handhabung hat sich bei der Betreuungsrechtsreform 2023 bewährt. Daran sollte angeknüpft werden.
Das Erfordernis einer wissenschaftlichen Untersuchung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen
Schließlich ist es dringend erforderlich, dass die Folgen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und ihre Beurteilung durch betroffene Menschen wissenschaftlich untersucht werden. Die Konstellationen sind bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen nach unserer Erfahrung sehr unterschiedlich. So wie einerseits sehr viele Betroffene nach der Behandlung froh sind, behandelt worden zu sein, so sprechen andere davon, die Zwangsmaßnahme traumatisierend erlebt zu haben.
Die Fachgruppe Betreuungsrecht der Neuen Richter*innenvereinigung hat sich im Jahre 2023 gebildet, um relevante Fragen des Betreuungsrechts auf der Grundlage der Ziele der NRV zu diskutieren und öffentlich Stellung zu nehmen.

