Justiz in Zeiten der Pandemie

Berliner Erklärung

Forderungspapier, erarbeitet in der Fachgruppe „Justizstruktur und Gerichtsverfassung“ in der Videotagung am 23. Januar 2021 zur Durchführung der mündlichen Verhandlung und zum Schutz der Betreuungsrichter*innen in der Pandemie

I.    Mündliche Verhandlungen

  1. In der gegenwärtigen Krise ist die richterliche Unabhängigkeit von besonderer Bedeutung. Sie umfasst, in eigener Verantwortung über das Ob und das Wie insbesondere des mündlichen Verhandelns zu entscheiden.
  2. Die jeweilige Entscheidung der Richterinnen und Richter über die Durchführung von Verhandlungen ist zu respektieren und seitens des Dienstherrn nicht einzuschränken.
  3. Jegliche dienstrechtliche Bewertung dieser Entscheidungen im Rahmen von Beurteilungen hat zu unterbleiben. Keine Richterin und kein Richter soll das Infektionsrisiko für sich und für die geladenen Personen mit dem Risiko abwägen müssen, dass dies Eingang in dienstliche Beurteilungen findet.
  4. Wir Richterinnen und Richter tragen eine gesellschaftliche Verantwortung auch dafür, dass es  im Rahmen unserer beruflichen Tätigkeit und damit im Rahmen der Erfüllung des Justizgewährungsanspruchs nicht zu einer weiteren Ausbreitung des Corona-Virus kommt. Im Rahmen der uns garantierten richterlichen Unabhängigkeit sollten wir daher stets prüfen, ob die Durchführung von Verhandlungen oder Anhörungen im Hinblick auf das damit einhergehende Ansteckungsrisiko geboten und unausweichlich ist. Hilfreich bei der Entscheidungsfindung kann auch die Abstimmung mit den anderen Verfahrensbeteiligten sein, um damit eine größere Akzeptanz zu erreichen.
  5. Dabei haben wir zu beachten, dass das Gesetz uns Instrumentarien zur Vermeidung dieses Infektionsrisikos zur Seite stellt, wie z. B. die Entscheidung im schriftlichen Verfahren oder die Durchführung der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung. Wo dies möglich ist, sollten wir dies erwägen und bei Vorliegen der rechtlichen und/oder technischen Voraussetzungen anordnen. Auch sollten wir in jedem Einzelfall prüfen, ob die Anordnung des persönlichen Erscheinens der Parteien bei Durchführung der Verhandlung erforderlich und zwingend geboten ist.
  6. Die Justizministerien und Gerichtsverwaltungen stehen in der Verantwortung, in allen Gerichten die technischen Voraussetzungen für Verhandlungen im Wege der Videoübertragung zu schaffen.
  7. Daneben müssen alle Säle, die für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen oder Anhörungen zur Verfügung stehen, die gebotenen Hygieneanforderungen erfüllen. Neben der Gewährleistung des erforderlichen Mindestabstands ist für ausreichende Ausstattung mit Plexiglasscheiben, Luftreinigungsanlagen, Desinfektionsmitteln und FFP-2-Masken zu sorgen, und zwar auch für die anwesenden Parteien und Parteivertreter*innen, sollten diese nicht selbst über eine solche Maske verfügen.
  8. Um die akustischen Probleme beim Verhandeln mit Gesichtsmaske zu minimieren, kann eine Mikrofonanlage im Saal erhebliche Erleichterung bringen.
  9. Die Richtervertretungen sind aufgerufen, bei der Abstimmung der Infektionsschutzmaßnahmen in den Gerichten ihre Rolle gegenüber der Gerichtsverwaltung selbstbewusst wahrzunehmen und zugleich eine regelmäßige Kommunikation auch der Kolleginnen und Kollegen untereinander zu fördern.
  10. Die Abstandsregeln bergen für uns Richterinnen und Richter die Gefahr einer Isolierung und Vereinzelung. Gemeinsames Vorgehen, Diskutieren und Abstimmen kann uns helfen, kreative Lösungen zu entwickeln, um diese für uns alle belastende Situation zu meistern.
  11. Zu unserer richterlichen Verantwortlichkeit gehört die Verantwortung für das Auftreten der Justiz insgesamt. Auch der Aspekt der Gleichbehandlung sollte bei der Suche nach einer möglichst einheitlichen Linie nicht außer Acht gelassen werden.
  12. Eine im Gericht oder darüber hinaus abgestimmte ähnliche Terminierungspraxis schützt insbesondere die Unabhängigkeit derjenigen Richterinnen und Richter, die aufgrund ihrer Position erwartbar die größten Schwierigkeiten haben, ihre richterliche Unabhängigkeit gegenüber äußerem Druck zu wahren, die Proberichter.

II. Schutz der Betreuungsrichter*innen

Die Betreuungsrichter*innen sind in einem die Grundrechte der Betroffenen maßgeblich betreffenden Bereich tätig. Für sie ist die Gewährung eines den Betroffenen gerecht werdenden rechtlichen Gehörs unverzichtbar. Um diesem Anspruch auch in der Zeit der Pandemie gerecht werden zu können, bedarf es allerdings weitergehender Schutzmaßnahmen sowohl mit Blick auf die Betroffenen als auch mit Blick auf die Betreuungsrichter*innen.

1. Schutzimpfung

Betreuungsrichter*innen sollte sofort ein Impfangebot gemacht werden.

Die Neue Richtervereinigung begrüßt zunächst ausdrücklich, dass in der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfungen gegen das Corona-Virus SARS-CoV-2 (CoronaImpf-VO) die Justiz zur Gruppe mit erhöhter Priorität gehören (Dritte Prioritätengruppe: § 4 Nr. 3 CoronaImpfVO).

In einem Bereich der Justiz sollten die Richter*innen jedoch in die Gruppe mit der höchsten Priorität aufgenommen werden (§ 2 CoronaImpfVO) und ihnen sofort die Möglichkeit zur Impfung eröffnet werden. Dies betrifft die Kolleg*innen, welche betreuungsgerichtliche Aufgaben wahrnehmen.
Die tägliche Arbeit der Betreuungsrichter*innen ist dadurch geprägt, dass die persönlich von den Richter*innen anzuhörenden Personen meist nicht ins Gerichtsgebäude kommen können, sondern das Gericht zu den Menschen in die stationären Einrichtungen und Kliniken geht. Anlass für Betreuungs- und Unterbringungssachen sind häufig altersbedingte Krankheiten, sodass ältere Menschen häufiger von den entsprechenden Verfahren betroffen sind als jüngere Menschen. Hinzu kommen die Gruppen der tatsächlich an Covid erkrankten Personen, welche in Eilverfahren eine Betreuerperson zur Seite gestellt bekommen sollen sowie behinderte Menschen und psychisch kranke Personen.

Durch die verfahrensrechtlich zwingend vorgeschriebenen persönlichen Kontakte in Altenpflegeeinrichtungen, Kliniken und bei den Betroffenen zuhause besteht die immanente Gefahr, dass Richter*innen die Viren unbemerkt an unterschiedlichen Orten verteilen. Damit gefährden sie nicht nur sich selbst und ihre Familien, sondern vor allem die besonders schützenswerten Personen, welche zudem krankheitsbedingt häufig die Gefahren des Corona-Virus nicht beurteilen können.

Die zahlenmäßig überschaubare Gruppe der Betreuungsrichter*innen kann daher als in Einrichtungen und Kliniken „tätige“ Berufsgruppe gelten (§ 2 Nr. 2 und Nr. 4 CoronaImpfVO). Diesen Richter*innen sollte sofort ein Impfangebot gemacht werden. Die Bundesländer Baden-Württemberg und Hamburg realisieren dies schon, die anderen 14 Bundesländer sollten diesem Beispiel folgen.

2. Weitere Schutzmaßnahmen

Gleichzeitig ist es essentiell, die Weiterverbreitung des Virus im Zusammenhang mit Anhörungen durch Betreuungsrichter*innen durch weitere Schutzmaßnahmen zu verhindern. Dazu zählen zum einen die angemessene und erforderliche Schutzausrüstung und zum anderen die regelmäßige Testung der betroffenen Richter*innen, denen der Zutritt zu Seniorenzentren ohne ein negatives Testergebnis teilweise verwehrt wird.

Wir fordern daher:

  • Mund-Nasen-Schutz in Form von OP- und insbesondere FFP2-Masken in ausreichendem Maß
  • Einmalhandschuhe und Desinfektionsmittel für jede*n Betreuungsrichter*in
  • Anlasslose PCR-Tests (etwa 2 „Gutscheine“ im Monat, die nach Bedarf eingesetzt werden können – entsprechend der Regelung für Lehrpersonal)
  • Regelmäßige Schnelltests, die etwa vor einer Anhörungstour eingesetzt werden können

Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass Betreuungsrichter*innen leicht zum Superspreader werden können, wenn sie vom Covid-Patienten auf der Intensivstation über das Wohnheim für Menschen mit Behinderung direkt in die Altenpflegeeinrichtung gehen. Dies lässt sich auch etwa durch Anpassung der Arbeitsabläufe nicht ändern, da insbesondere im Eildienst die Anhörungen, die an einem konkreten Tag durchgeführt werden müssen, durch gesetzliche Vorgaben feststehen.

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