Gibt es in der Krise noch eine 3. Staatsgewalt?

15. April 2020| Bundesvorstand, Stellungnahme

NRV Positionspapier zur aktuellen Situation der Justiz in Deutschland

Was die Justiz aus der Corona-Krise lernen muss.

Oder: Wer kontrolliert eigentlich wen, wenn es hart auf hart kommt?

Die Corona-Krise hat alle Menschen und ganz sicher auch Verantwortungsträger auf allen Ebenen überrascht. Es war richtig, das öffentliche Leben aus Gründen des Gesundheitsschutzes herunterzufahren. Das hatte natürlich Auswirkungen auf Gerichtsverhandlungen aller Art und den Justizbetrieb insgesamt. Mit diesem Positionspapier will die Neue Richtervereinigung (NRV) keine Einzelkritik an den vielfältigen Maßnahmen der letzten Wochen üben.
Es werden aber einige grundsätzliche Phänomene aufgezeigt, die aus unserer Sicht analysiert werden, mit dem Ziel, für die Zukunft daraus zu lernen und Gerichte für Krisensituationen – und durchaus nicht nur dafür – besser aufzustellen.

1. Es kann nicht sein, dass die Exekutive die Judikative „abschalten“ kann

Das Ergebnis einer bundesweiten NRV-Umfrage zur Art und Weise der Reaktion auf die Pandemie in den Gerichten und dazu, wie die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeits- und Beteiligungsmöglichkeiten erlebt haben und erleben, zeigt ein sehr heterogenes Bild: Von weitgehendem „business as usual“ bis hin zum vollständigem Shutdown der Gerichte, zum Teil mit Betretungsverboten, die von den Gerichtsverwaltungen gegenüber den Richterinnen und Richtern (und anderen Beschäftigten) ausgesprochen wurden. Teilweise sollten sogar selbst schriftliche Verfahren nicht erfolgen.

Ohne jede Einzelmaßnahme zu beleuchten, zeigt sich aber folgendes: In jedem Fall wurden die Maßnahmen von der Justizverwaltung gegenüber den Richterinnen und Richtern getroffen. Gem. Art. 92 GG ist die Rechtsprechung jedoch den Richterinnen und Richtern anvertraut. Sie sind nach der Verfassung die Träger der dritten Staatsgewalt. Die Gewaltenteilung ist eines der wesentlichen Grundprinzipien unseres Staatsaufbaus.

  • In einem gewaltengeteilten Staat darf deswegen niemals die Exekutive mit Anordnungen und Weisungen die Judikative in ihrer Tätigkeit und damit in der der Rechtsprechung einschränken oder diese praktisch unmöglich machen. Für die rechtsprechende Gewalt gilt nichts anderes wie für die Parlamente (Legislative), deren Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive anerkannt ist (und das gilt völlig unabhängig davon, ob man das Ergebnis der Maßnahmen für richtig und angemessen hält oder nicht).
    Auch und gerade in der Krise muss die Kontrollfunktion der Rechtsprechung gegenüber der Verwaltung uneingeschränkt erhalten bleiben.

2. Den Richterinnen und Richtern als Träger der Rechtsprechung fehlt derzeit jede Form von Organisation und Verfasstheit, um in solchen Situationen reagieren zu können

Die Krisensituation zeigt aber auch, dass es einer Organisationsform bedarf, in der unter Umständen auch schnell durch die Richterinnen und Richter organisatorische Maßnahmen getroffen werden können. Die Rückmeldungen der Kolleginnen und Kollegen zeigen, dass Gerichte und Gerichtsbezirke sehr unterschiedlich vorgegangen sind. Von rigorosem Anordnen und Dekretieren der Präsidentinnen und Präsidenten sowie Direktorinnen und Direktoren im Ruckzuck-Verfahren ohne Absprachen, Rückfragen und Ausnahmen bis hin zur Bildung von gemeinsamen Krisenstäben aus Gerichtsleitung, Mitbestimmung und Präsidien, die in Verantwortungsgemeinschaft dringende Empfehlungen herausgegeben haben. Auch das Maß der wirklichen Berücksichtigung gesetzlicher Regelungen – etwa im GVG – war durchaus unterschiedlich. Die Umfrage zeigt aber auch, dass weder die Eilbedürftigkeit noch die Effektivität zwingend die harte Rigorosität erfordert hätte. Auch in Gerichten mit sehr respektvollem Umgang mit der Judikative wurden schnell gute und wirksame Maßnahmen ergriffen (Warum sollte das auch bei grundsätzlich rational arbeitenden Richterinnen und Richtern anders sein?).

 

  • Allerdings zeigt die Analyse auch, dass es derzeit keine richterliche Organisationsform gibt, die zielgerichtet und verantwortlich für die Träger der dritten Gewalt handeln kann. Gerichtspräsidentinnen und –präsidenten oder Direktorinnen und Direktoren sind es nicht, weil sie Teil der Verwaltung sind. Präsidien haben nur eine Teilzuständigkeit und Richterräte bestimmen nur mit aber nicht selbst.
  • Zur krisenfesten Absicherung der Gewaltenteilung ist deswegen eine parlamentarisch legitimierte Selbstverwaltung der dritten Staatsgewalt zwingend erforderlich.

3. Die Rechtsprechung ist nicht vorbereitet, in einer solchen Krisensituation zu agieren

Die Umfrage hat außerdem einen Konsens unter fast allen Kolleginnen und Kollegen darüber gezeigt, dass zunächst nur unbedingt notwendige gerichtliche Maßnahmen durchgeführt werden sollten. Schon unterschiedlicher wird die Frage beantwortet, was genau darunter zu verstehen ist. Strafver¬handlungen in sog. Haftsachen, gerichtliche Entscheidungen in sonstigen Freiheitsent¬ziehungssachen (Gewahrsam, Unterbringung, Fixierung) gehören ebenso dazu wie Entscheidungen über Kindesherausnahmen und Gewaltschutzverfahren. Dass zudem gerade Verwaltungsgerichte in eiliger Rechtsprechung nicht behindert werden dürfen, ist angesichts der notwendigen Entscheidungen über die mögliche Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Corona-Maßnahmen selbst offensichtlich.

Die Prozessordnungen und das Gerichtsverfassungsrecht sehen zudem bereits Regelungen vor, wie in besonders eiligen Fällen, auch ohne sonst notwendige Verfahrenshandlungen, rechtsförmige Entscheidungen getroffen werden können. Vertretungsregelungen ermöglichen schnelle Entscheidungen auch dann, wenn nicht sofort jeder Richter oder jede Richterin am Platze ist.

  • Es bedarf keiner weiteren Sonderregelungen oder gar eines Verfahrensrechts „light“, um mit Krisensituationen umzugehen.
  • Allerdings fehlen oft die praktischen Voraussetzungen, damit in schwierigen Zeiten der Zugang der Menschen zur Justiz und der Justiz die Gewährung rechtlichen Gehörs (also der Zugang der Justiz zu betroffenen Menschen) ermöglicht werden kann. Es fehlen wirksame Schutzausrüstungen (z.B. Schutzkleidung, Masken) oder technische Einrichtungen (z.B. Videoanhörungsmöglichkeiten), um auch in diesen Situationen agieren zu können.
  • Da die aktuelle Infektionssituation noch längere Zeit anhalten wird (auch wenn heute Lockerungen beschlossen werden sollten), braucht die Justiz in vielen Fällen besondere Räume und Ausstattungselemente (Sicherheitsscheiben etc.), um Verhandlungen unter Einhaltung der Abstandsgebote und sonstiger Sicherheitsvorkehrungen durchführen zu können. Es muss das Ziel sein, einen erweiterten Justizbetrieb zu ermöglichen, ohne die Gesundheit aller Beteiligten zu gefährden!
  • Es fehlen auch allgemeine Regelungen dazu, welche justiziellen Leistungen immer und überall ermöglicht werden müssen. Aus Sicht der NRV gehören dazu mindestens:

–    ein auch analoger Zugang zur Justiz, um Anträge stellen zu können, also die Möglichkeit immer auch schriftliche Anträge einreichen oder eine Rechtsantragstelle aufsuchen zu können

–    eine Zugangsmöglichkeit per Telefon, um Informationen zu bekommen

–    ein ständiger im Gericht anwesender richterlicher Dienst, der allein in richterlicher Unabhängigkeit darüber entscheidet, was in welcher Form behandelt wird

4. Der Justiz fehlt die notwendige moderne Ausstattung

Soweit den Richterinnen und Richtern ein Arbeiten in den Gerichten nicht mehr oder sehr eingeschränkt möglich ist, führt das häufig dazu, dass gar nicht mehr gearbeitet werden kann. Das viel zitierte Homeoffice ist in der Justiz an vielen Stellen nur eine allenfalls halbe Realität. Zwar kann man Akten auch zuhause lesen. Um eine zielführende Bearbeitung zu erreichen, ist aber ein Zugriff auf die Gerichts-EDV erforderlich, ebenso wie auf juristische Datenbanken und online-Recherchemöglichkeiten. Ein Gerichtsarbeitsplatz mit mobilen Geräten und einem VPN-Zugang zum Gerichtsnetz, elektronischem Austausch von Dokumenten, technisch unterstützten Beratungen (Telefonkonferenzen, Videokonferenzen) ist aber vielerorts auch im bereits angebrochenen digitalen Zeitalter immer noch Zukunftsmusik, wenn überhaupt. Auch die in den Prozessordnungen zugelassenen Videoverhandlungen (§§ 128a ZPO, 32 FamFG) sind vielerorts gar nicht möglich, weil die technischen Einrichtungen gar nicht vorhanden sind.

  • Die Justiz benötigt deswegen jetzt sehr schnell ein technisches Upgrade zu flächendeckenden Einführung wirklich moderner Arbeitsplätze, die in der freien Wirtschaft schon längst Standard sind. Einzelne Bundesländer machen vor, dass das möglich ist!

5. Es ist jetzt eine Dynamik für neue (digitale) Arbeits- und Verhandlungsformen erforderlich, ohne den Wert von persönlichen Anhörungen und Verhandlungen aus den Augen zu verlieren; Online-Gerichte sind nicht das Ziel

Skype, Zoom:us und andere Programme, um online in Ton und Bild miteinander zu sprechen, sind in aller Munde und werden jetzt zwischen Personen eingesetzt, die das wohl vorher nie gedacht hätten. Auch in gerichtlichen Verfahren sind die modernen Kommunikationswege durchaus jetzt schon rechtlich möglich. Allerdings müssen die gerichtlichen Kommunikationswege zwingend die wichtigen Regelungen des Datenschutzes einhalten, weswegen die oben genannten Programme in der Justiz nicht nutzbar sind.

  • Justiziell nutzbare Programme müssen deswegen jetzt sehr dynamisch entwickelt, eingeführt und unter den Kolleginnen und Kollegen verbreitet und eingeübt werden. Sie stellen in der aktuellen Krisenzeit aber sicher auch darüber hinaus eine sinnvolle weitere Handlungsmöglichkeit der Justiz dar.
  • Das alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das persönliche Gespräch zwischen den Beteiligten und den Richterinnen und Richtern bei gleichzeitiger Anwesenheit im Gerichtssaal eines der zentralen Qualitätsmerkmale der Justiz ist. Es muss zudem auch der Zugang der Öffentlichkeit zu dem, was in Gerichten passiert, erhalten bleiben.
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