Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Landesregierung zur COVID-19-Pandemie
Keine Zwangsverpflichtung medizinischer Fahkräfte!
Gesetzentwurf der Landesregierung zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie – Drs. 17/8920
Sehr geehrte Damen und Herren,
auf Bitten der rechtspolitischen Sprecherin der SPD – Fraktion im Landtag, Frau Sonja Bongers MdL, nimmt die Neue Richtervereinigung Nordrhein-Westfalen gerne die Gelegenheit wahr, zum im Betreff genannten Gesetzentwurf der Landesregierung (im Folgenden: GE) Stellung zu nehmen.
Entsprechend der Bitte soll zunächst Artikel 20 GE betrachtet werden (I.) um anschließend aus richterlicher Sicht zum Gesetzesvorhaben Stellung zu nehmen (II.).
Zu I.
In Artikel 20 GE soll das Landesrichter- und Staatsanwältegesetz (LRiStG) geändert werden.
Der Vorschrift des § 48 Abs. 5 LRiStG wird nach dem Gesetzentwurf ein Satz 8 angefügt, der befristet bis zum 31. Dezember 2020 eine Beschlussfassung des Gremiums auch im Umlaufverfahren für zulässig erklärt. Diese Art der Beschlussfassung ist in Satz 6, 2. Halbsatz der aktuellen Gesetzesfassung explizit ausgeschlossen.
Eine Umfrage unter den Mitgliedern der Neuen Richtervereinigung hat eine ganz überwiegende Zustimmung zu der geplanten Änderung ergeben, die als praxistauglich und unter den gegebenen Bedingungen und mit der vorgesehenen Befristung auch als geboten erachtet wird. Die für den „Normalbetrieb“ vorzugswürdige Präsenz der Gremienmitglieder führt derzeit zu einer vermeidbaren Gefährdung. Wir gehen davon aus, dass moderne Kommunikationsformen wie Videokonferenz oder Konferenztelefonie in den Gerichten und Staatsanwaltschaften bereitgestellt und genutzt werden können, um den notwendigen Austausch vor der Beschlussfassung auch in den Mitbestimmungsgremien der Justiz zu ermöglichen.
Unsere Kinder machen uns diese Kommunikationsform derzeit mit Schule und Uni vor!
Zu II.
Mit Artikel 1 des Gesetzespakets wird ein „Gesetz zur Regelung besonderer Handlungsbefugnisse im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler oder landesweiter Tragweite und zur Festlegung der Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz (Infektionsschutz- und Befugnisgesetz – IfSBG-NRW)“ vorgelegt, das unseren demokratischen Rechtsstaat auf den Kopf stellt. Der Landtag darf diese Bündelung exekutiver Macht nicht beschließen und damit seine Entscheidungskompetenz auf das dann im Wesentlichen alleinzuständige Gesundheitsministerium übertragen.
Die Gewaltenteilung würde beschädigt und der Gesetzgeber sich seiner Aufgaben entziehen. Denn er muss wesentliche Entscheidungen selbst treffen (Wesentlichkeitstheorie). Im Übrigen enthält der Gesetzentwurf nicht hinnehmbare Grundrechtseingriffe.
So soll die Gesundheitsverwaltung nach § 15 des Gesetzentwurfs medizinisches und pflegerisches Personal zur Dienstleistung in eigenen oder fremden Einrichtungen zwangsverpflichten dürfen. Damit wird das bisherige außerordentliche und freiwillige Engagement von medizinischem und pflegerischem Personal im ganzen Land nicht wertgeschätzt und für dieses ein besonders demotivierendes Signal gesetzt. Dieser außerordentliche Eingriff in die Berufsfreiheit und die Selbstverwaltung erscheint zudem auch bei einem anzunehmenden erheblichen Anstieg der Erkrankten weder erforderlich noch verhältnismäßig. Es gibt auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass das bisherige, auf Selbstverantwortung und Berufsethos gestützte und funktionierende System nur durch Zwang zur Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen angehalten werden kann. Eine unterschiedslose Zwangsverpflichtung aller, unabhängig von Alter, Gesundheitszustand und Ausrüstung erscheint zudem gerade angesichts der in NRW völlig unzureichenden Versorgung von ÄrztInnen, PflegerInnen und Hebammen mit Schutzmasken nicht hinnehmbar. Hier sieht der Gesetzentwurf einen möglichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ausdrücklich vor (§ 16 Abs. 1 GE)!
Es ist auch nicht akzeptabel, mit § 13 des Gesetzentwurfs dem Gesundheitsministerium eine Generalermächtigung zum Erlass „weitergehende Anordnungen“ zu geben. Diese völlig unbestimmte Ausweitung der Befugnisse der Exekutive und damit der Aushebelung der Gewaltenteilung widerspricht den rechtsstaatlichen Grundsätzen, auf denen unser demokratisches Gemeinwesen fußt.
Staatspolitisch ist die Übertragung der Zuständigkeit zum Erlass von Rechtsverordnungen nach dem Infektionsschutzgesetz des Bundes von der Landesregierung auf das Gesundheitsministerium (§ 10 GE) eine Abkehr vom Regelfall und abzulehnen. Rechtlich und politisch trägt die gesamte Landesregierung in dieser Situation die Verantwortung.
Die meisten der übrigen vorgesehenen Regelungen, auf die wegen der Kürze der Zeit nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, sind fachlich geboten und rechtsstaatlich unbedenklich.
Gefährden Sie nicht mit den in Artikel 1 §§ 10 bis 15 GE vorgesehenen Regelungen den breiten und solidarischen Konsens in der Bevölkerung und in den mit der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen besonders befassten Berufsgruppen.
Bislang – dieser Hinweis sei aus richterlicher Sicht gestattet – wird der Rechtsweg gegen behördliche Maßnahmen gestützt auf das Infektionsschutzgesetz und die begleitenden Regelungen nahezu nicht in Anspruch genommen.
Mit freundlichen Grüßen,
Felix Helmbrecht
(für den Sprecherrat der NRV – NRW)