Menschen schützen, Kommunen unterstützen, Chancen nutzen
Fünf-Punkte-Plan für eine funktionierende Asyl-, Aufnahme- und Integrationspolitik
Aktuelle Herausforderungen bei der Aufnahme geflüchteter Menschen machen mehr denn je deutlich: Es braucht eine gut funktionierende Asyl-, Aufnahme- und Integrationspolitik. Statt Geflüchtete gesellschaftlich und rechtlich auszugrenzen, ist ein Umdenken nötig, um ihre Aufnahme zu meistern und sich unserer Gesellschaft bietenden Chancen zu nutzen. Die derzeitigen Abschottungs- und Abwehrdiskussionen helfen dabei nicht. Sie halten Menschen auf der Flucht auch nicht davon ab, ein Leben in Sicherheit zu suchen.
Was es braucht, sind lösungsorientierte und pragmatische Ideen für eine gute Aufnahme und schnelle Integration. Eine vorausschauende Politik muss für die nächsten Jahre mitplanen.
Im öffentlichen politischen Diskurs vermissen wir faktenbasierte und menschenrechtsgeleitete Vorschläge. Vergessen werden oft die Erfolge der Flüchtlingsaufnahme der letzten Jahre sowie die der Aufnahme von einer Million geflüchteter Menschen aus der Ukraine. Dabei zeigen die Beispiele: Die Gesellschaft kann viel, wenn die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schafft.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“: Dieses Grundrecht sowie das Bekenntnis des Grundgesetzes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten – wie dem Menschenrecht, Asyl zu suchen – müssen stets Maßstab der deutschen Politik sein. Dies muss auch konsequent für nach Deutschland geflüchtete Menschen gelten und darf nicht in Frage gestellt werden.
Gemeinsam fordern wir als Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen und Wohlfahrtsverbände von der Bundesregierung und den Landesregierungen folgende Maßnahmen für eine funktionierende Asyl-, Aufnahme- und Integrationspolitik:
- Eine zukunftsorientierte Aufnahme für Asylsuchende
- Fokus auf Integration und Partizipation
- Sozialrechtliche Eingliederung statt Ausgrenzung
- Unterstützungsstrukturen erhalten und dem Bedarf anpassen
- Eine Sozialpolitik, die alle mitdenkt
Im Einzelnen:
- Eine zukunftsorientierte Aufnahme für Asylsuchende
Viele Kommunen haben aktuell Schwierigkeiten, die nach Deutschland fliehenden Menschen menschenwürdig unterzubringen und angemessen zu versorgen und fühlen sich finanziell und organisatorisch von den Ländern und dem Bund im Stich gelassen. Für die Geflüchteten bedeutet das derzeitige System, gesellschaftlich isoliert und ohne Privatsphäre in Massenunterkünften leben zu müssen. Besonders für vulnerable Gruppen wie Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen oder traumatisierte Menschen ist diese Unterbringungsform eine große Belastung. Im Herkunftsland oder auf der Flucht erlebte Traumata können nicht aufgearbeitet werden. Wir müssen ein Aufnahme- und Unterbringungssystem aufbauen, das sowohl aktuellen als auch kommenden Flucht- und Migrationsbewegungen gerecht wird als auch den betroffenen Menschen.
Ein erster Schritt ist, dass die private Unterbringung ermöglicht wird, wenn Asylsuchende bei Freund*innen oder Verwandten wohnen können. Dies ermöglicht für die Menschen einen besseren Start in Deutschland und entlastet auch wirksam die Kommunen.
Außerdem fordern die unterzeichnenden Organisationen, dass die Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung auf wenige Wochen, längstens auf drei Monate, begrenzt wird (siehe hierzu auch den Aufruf für eine zukunftsorientierte Erstaufnahme von 2021). Die Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter muss weiterhin den geltenden Regelungen der Kinder- und Jugendhilfe unterliegen. Ihre Unterbringung in allgemeinen Sammelunterkünften wird aus den zuvor beschriebenen Gründen strikt abgelehnt. Eine dezentrale Unterbringung in Wohnungen kann maßgeblich dazu beitragen, den emotionalen und körperlichen Heilungsprozess nach Verfolgung im Heimatland und dem Trauma der Flucht anzuschieben und den Menschen einen positiven und selbstbestimmten Start ins Leben in Deutschland bieten. Die gesonderte Unterbringung von hunderten Geflüchteten auf engstem Raum in zum Teil sehr kleinen Gemeinden, schürt zudem Vorurteile und Missverständnisse und bietet kaum Möglichkeiten, voneinander zu lernen und zusammenzuwachsen.
Darüber hinaus müssen die Kommunen dauerhaft finanziell so ausgestattet werden, dass sie Unterbringung, Versorgung und Begleitung der Integration gut leisten können.
- Fokus auf Integration und Partizipation
Bei allen Herausforderungen darf nicht vergessen werden: Die Aufnahme schutzsuchender Menschen ist nicht nur ein rechtliches und humanitäres Gebot, sie bietet auch Chancen für eine alternde Gesellschaft, die unter Arbeits- und Fachkräftemangel leidet. Um die sich ergebenden Chancen zu nutzen, müssen die ankommenden Menschen möglichst schnell selbstbestimmt leben können und wirksam unterstützt werden. Dazu gehört der Ausbau der Integrationskurse, um beim schnellen Spracherwerb zu unterstützen. Weil die besten Integrationsmöglichkeiten regelmäßig am Arbeitsplatz bestehen, müssen Geflüchtete die Möglichkeit haben, eine Beschäftigung aufzunehmen. Entsprechend sind bestehende Arbeitsverbote für Geflüchtete abzuschaffen. Eine Arbeitspflicht, wie sie aktuell diskutiert wird, ist dagegen kontraproduktiv und verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Eine schnellere und besser koordinierte Anerkennung von ausländischen Abschlüssen und beruflichen Qualifikationen würde den Arbeitskräftemangel in Deutschland mildern und Menschen nicht auf Arbeiten beschränken, für die sie eigentlich überqualifiziert sind.
In der Schule lernen geflüchtete Kinder und Jugendliche am schnellsten die neue Sprache, finden neue Freundschaften, holen verlorene Lerninhalte auf und leben sich im neuen Umfeld ein. Entsprechend sollte ihnen der Zugang zur Regelschule und Kita gewährt werden. Ersatzunterricht in großen Aufnahmeeinrichtungen ist hierfür nicht geeignet.
Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass es eine besonders große Integrationsbremse gibt, die es vielen Menschen nahezu unmöglich macht, sich auf Sprachkurse oder die Arbeitssuche zu konzentrieren: der jahrelang dauernde Familiennachzug. Auch aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive ist es elementar, dass die im Koalitionsvertrag versprochenen Verbesserungen hierzu schnell umgesetzt werden (siehe hierzu auch das gemeinsame Statement vom 20. September 2023).
- Sozialrechtliche Eingliederung statt Ausgrenzung
Das im Grundgesetz verbriefte Recht auf ein menschenwürdiges Leben bedeutet, dass geflüchteten Menschen der Zugang zu einem menschenwürdigen Existenzminimum von Anfang an ermöglicht werden muss. Sachleistungen und die niedrigen Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes ermöglichen dies nicht. Sie sind außerdem oft aufwendig und bürokratisch für die umsetzenden Behörden. Auch gegen Bezahlkarten gibt es entsprechende Vorbehalte. Wie die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine gezeigt hat, ist eine frühzeitige Gewährung regulärer Sozialleistungen sowohl möglich als auch sinnvoll.
Zu den entscheidenden Faktoren für die Wahl des Zufluchtsortes gehören laut mehreren Studien die Aussicht auf Schutz, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie die Anwesenheit von Familie oder Community – alles Aspekte, die auch den Start in Deutschland erleichtern. Die Höhe der Sozialleistungen gehört dagegen nicht dazu. Entsprechende Behauptungen sind wissenschaftlich nicht belegt. Und auch das Bundesverfassungsgericht hat 2012 entschieden, dass Sozialleistungen nicht aus Gründen der Abschreckung unter dem Existenzminimum liegen dürfen. Statt weiterer Verschärfungen im Bereich der Sozialleistungen muss endlich das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft werden.
- Unterstützungsstrukturen erhalten und dem Bedarf anpassen
In Zeiten, in denen viele Menschen in Deutschland Schutz suchen und bekommen, muss die Unterstützungsstruktur für diese Menschen gestärkt werden. Denn sie müssen beim Ankommen und bei der Integration unterstützt werden, sodass sie beispielsweise den Zugang zu Sprachkursen, Ausbildung und Arbeitsmarkt finden. Gerade im Hinblick auf die gewünschte Beschleunigung von Asylverfahren ist ein flächendeckender frühzeitiger Zugang zu einer behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung unabdingbar. Diese führt nachweislich nicht nur zu faireren und rechtsstaatlicheren Verfahren, sondern kann auch zur Beschleunigung der Verfahren beitragen. Auch haben viele Asylsuchende in ihrem Heimatland und auf der Flucht traumatische Erfahrungen gemacht, die angemessene therapeutische Begleitung notwendig machen. Diese Angebote ermöglichen teilweise erst die gesellschaftliche und berufliche Integration und führen zu einer Entlastung der Kommunen.
Wenn im Bundeshaushalt ausgerechnet diese Mittel gekürzt werden, steht dies nicht nur einer erfolgreichen und möglichst frühzeitigen Integration der ankommenden Menschen entgegen, sondern gefährdet auch den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Es sind in der Regel gerade diese Angebote, mit denen Länder und Kommunen bei der Aufnahme schutzsuchender Menschen unterstützt werden.
- Eine Sozialpolitik, die alle mitdenkt
Es ist klar, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nur im Kontext einer stimmigen Sozial- und Bildungspolitik funktionieren. Viele Probleme, die wir aktuell erleben – etwa auf dem Wohnungsmarkt und bei Schul- und Kitaplätzen – betreffen viele Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sind nicht erst mit den aktuell ankommenden Schutzsuchenden entstanden und werden auch nicht durch deren Abschreckung und Abwehr gelöst. Entsprechend braucht es eine Sozial- und Bildungspolitik, die alle mitdenkt.
Unterzeichnende Organisationen, 3. November 2023
Amnesty International Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
AWO Bundesverband e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V.
Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK e.V.
Der Paritätische Gesamtverband
Deutscher Caritasverband e.V.
Diakonie Deutschland
FORUM MENSCHENRECHTE
IPPNW – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V.
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Landesflüchtlingsräte
Neue Richtervereinigung e.V.
PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V.
Republikanischer Anwält*innen Verein
terre des hommes Deutschland e.V.
Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.