Fuldaer Erklärung für die Entwicklung eines professionellen richterlichen Bereitschaftsdienst
Der richterliche Bereitschaftsdienst dient der Wahrung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Er ist ein zentrales Element des Rechtsstaats und des Justizgewährleistungsanspruchs. Es ist deswegen eine wichtige Aufgabe der dritten Gewalt, auch außerhalb normaler Dienstzeiten einen Zugang zu Gerichten zu ermöglichen und die Durchführung gerichtlicher Verfahren entsprechend den jeweiligen Prozessordnungen ohne qualitative Einbußen zu gewährleisten.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.7.2018 hat die Bedeutung der Wahrung der Rechte und der Würde von Menschen durch angemessene gerichtliche Verfahren auch in besonderen Situationen noch einmal betont. Die NRV begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich. Das bedeutet, dass Gerichte täglich in der Zeit von 6:00 Uhr bis 21:00 Uhr und, soweit erforderlich, auch weitergehend für unaufschiebbare gerichtliche Entscheidungen erreichbar sein müssen. Das gilt für alle Bereiche, in denen grundrechtsrelevante Eingriffe, insbesondere Freiheitsentziehungen, vorkommen können (z.B. PsychKG, Haft, Betreuungsrecht).
Damit Gerichte in der Lage sind, diese wichtige Aufgabe zu erfüllen, müssen sie aber auch über eine angemessene personelle und sächliche Ausstattung und über eine auf die besonderen Bedürfnisse eines Bereitschaftsdienstes abgestellte Organisation verfügen. Aus Sicht der NRV bedeutet das insbesondere:
- Der Bereitschaftsdienst muss durch Richterinnen und Richter wahrgenommen werden, die dafür besonders fortgebildet sind und die diese Aufgaben auch in einem gewissen Umfang wahrnehmen (Expertenmodell).
- Die Richterinnen und Richter sind für die Wahrnehmung des Bereitschaftsdienstes in sehr angemessenem Umfang von anderen richterlichen Aufgaben freizustellen. Der Umfang hängt von den konkreten örtlichen Verhältnissen ab. Zugrunde liegen muss aber, dass die gesamte Bereitschaftszeit als Dienstzeit angerechnet wird (vgl. auch Entscheidung des EuGH vom 21.2.2018, Ville de Neville ./. Rudy Matzak, C-518/15).Die Personalbedarfsberechnungssysteme müssen deswegen um ein entsprechend bewertetes Bereithaltepensum erweitert werden. Es ist angesichts der bereits bestehenden Belastung der Justiz dafür zusätzliches richterliches Personal erforderlich.
- Der Bereitschaftsdienst ist eine solidarische Aufgabe der gesamten Justiz bzw. der ord. Gerichtsbarkeit, die damit verbundenen Belastungen sollten gerecht in der Justiz verteilt und getragen werden. Es sollten deswegen dort, wo sinnvoll und möglich im Rahmen des § 22c GVG Poollösungen mehrerer Gerichte unter Einschluss der Landgerichte gefunden werden. Oberlandesgerichte könnten durch (rechnerische) Personalverschiebungen beteiligt werden.
- Richterinnen und Richter müssen während der Bereitschaftszeiten grundsätzlich durch eine
Bereitschaftsgeschäftsstelle unterstützt werden. Darüber hinaus muss eine Geschäftsstelle auch während normaler Geschäftszeiten als Ansprechpartner und für koordinierende, administrative Aufgaben zur Verfügung stehen. Auch dies ist durch zusätzliches Personal sicherzustellen. - Es ist durch vorbereitende Absprachen sicherzustellen, dass auch die weiteren notwendig beteiligten Professionen zu allen Bereitschaftszeiten zur Verfügung stehen: Verteidiger, Verfahrenspfleger und -beistände, Dolmetscher, Sachverständige.
- Der Bereitschaftsdienst muss über eine moderne technische Ausstattung verfügen, insbesondere:
- dienstliche, über eine zentrale Nummer erreichbare Smartphones
- Mobile PCs, die einen jederzeitigen Zugriff auf das Internet und die Justiznetze ermöglichen (VPN-Tunnel) und über die ein jederzeitiger Zugriff auf eingehende Anträge möglich ist
- Scanner und Drucker
- Webbasierter Zugriff auf Formulare, Datenbanken und die Gerichtssoftware
Die Möglichkeiten einer sicheren elektronischen Aktenführung und eines sicheren elektronischen Rechtsverkehrs können die Arbeitssituation im Bereitschaftsdienst erleichtern, sie sind deswegen in diesen Bereichen bevorzugt auszubauen.
- Die Verwaltungen der Gerichte sollten einfache und praktikable Lösungen bereitstellen, um je nach örtlichen Gegebenheiten die Fahrten der Richterinnen und Richter zu Anhörungen zu erleichtern (Dienstfahrzeuge, Rahmenverträge mit Taxiunternehmen, Parkplatzregelungen etc.).
- Es sollte zum selbstverständlichen Standard gehören, regelmäßige Gesprächsrunden mit Kooperationspartnern (Polizei, StA, JVA, Kliniken, Gesundheitsämtern, Betreuungsbehörden, Jugendämtern, Rechtsanwälten, etc.) durchzuführen, um gute Verfahrensabläufe bei gleichzeitig sicherer Wahrung der jeweiligen Rollen zu ermöglichen.
Diese Eckpunkte sind eine Zusammenstellung der organisatorischen Möglichkeiten. Die Richterinnen und Richter sind im Rahmen ihrer Verantwortung für die dritte Gewalt, die ihnen anvertraut ist, gehalten, die jeweils örtlich beste Lösung zu entwickeln und umzusetzen. Die Justizverwaltungen sind besonders aufgerufen, die Richterschaft bei dieser Aufgabe zu unterstützen und die für erforderlichen Ressourcen sowie die nötige Ausstattung unkompliziert zur Verfügung zu stellen.
Diese Grundsätze hat die NRV auf der Mitwirkungskonferenz am 19.Januar 2019 entwickelt.