Bad Boller Erklärung zur interkulturellen Kompetenz in der deutschen Justiz
Erarbeitet auf der Tagung „Justiz und interkulturelle Kompetenz“ vom 7. bis 9. Oktober 2011 in der Evangelischen Akademie Bad Boll in Kooperation mit:
Bundesverband der Übersetzer und Dolmetscher (BDÜ), Deutscher Anwaltverein (DAV), Deutscher Juristinnenbund (djb), Deutscher Richterbund (DRB), Neue Richtervereinigung (NRV)
und in Fortführung der auf der Tagung „Interkulturelle Öffnung als Zukunftsaufgabe der Justiz“ vom 18. bis 20. Juni 2010 erarbeiteten Forderungen (s. Anhang)
I. Allgemeine Forderungen
1. Gesetzgebung/Politik/EU-Richtlinie
Anfrage bei Bundesjustizministerium und Justizministerkonferenz (JuMiKo), welche Schritte zur Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU vom 20.10.2010 bereits eingeleitet oder vorgesehen sind, insbesondere:
- Welche zur Umsetzung der Richtlinie erforderlichen gesetzlichen Regelungen vorbereitet werden
- Ob und wie für den Aufbau von aktuellen Listen („Registern“) für qualifizierte Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Dolmetscherinnen und Dolmetscher und für eine fortwährende Aktualisierung der Listen gesorgt wird
- Ob und wie die Zulassungsvoraussetzungen für die allgemeine Beeidigung der Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Dolmetscherinnen und Dolmetscher bundesweit vereinheitlicht werden, wobei das Ablegen einer Übersetzer- bzw.Dolmetscherprüfung eine der Voraussetzungen sein sollte.
- Ob und welche Maßnahmen zur Aus- und Fortbildung für Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte für den Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern in den verschiedenen justiziellen Verfahren vorgesehen sind oder bereits durchgeführt werden.
2. Forderungen für alle Bereiche der Justiz
- Aufnahme von Kriterien interkultureller Kompetenz in die Personalentwicklungsgrundsätze der Justiz im Sinne von Diversity-Management (kulturelle Vielfalt nicht als Problem sehen, sondern als Potentiale mit Wertschätzung)
- Aus- und Fortbildungsverpflichtung zu interkultureller Kompetenz für Richterinnen und Richter aller Gerichtsbarkeiten und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Studium und Referendariat (als Bestandteil der Prüfungen) und Fortbildung: „Lernen zu verstehen“ nicht gleichzusetzen mit „Verständnis
haben“ - Erinnerung daran, dass der sachgerechte Einsatz der Dolmetscherinnen und Dolmetscher (Hinzuziehung, §§ 185 GVG, 55 VwGO, 52 FGO, und Verhandlungsleitung, z.B. § 238 StPO, 136 ZPO) der ausschließlichen Verantwortung der Vorsitzenden / des Vorsitzenden eines Gerichts obliegt. Dies gilt vergleichbar im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren.
- Handlungsempfehlungen zum Begriff „der deutschen Sprache nicht mächtig“ (§ 185 GVG) im Hinblick auf den Umstand, dass es vor Gericht nicht um Alltagssprache, sondern Fachdialog geht.
- Entwicklung von Standards für den Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern in den verschiedenen Bereichen der Justiz
- Bereitstellung eines aktualisierten und zu pflegenden Dolmetscherregisters mit Angaben zu Fachgebieten und speziellen Kenntnissen
- Bereitstellung der erforderlichen Technik in den Gerichten (z.B. für Flüster- oder Simultandolmetschen)
- Bei Bestellung von Dolmetscherin / Dolmetscher in Sicherstellung von ausreichender Information über den zu dolmetschenden Gegenstand (z.B. Übersendung von Fachunterlagen, z.B. Auszug aus (An-)Klageschrift, Obduktionsbericht, Ballistikgutachten, Gutachten mit besonderen Fachbegriffen …)
II. Forderungen zur Zusammenarbeit mit Dolmetschenden
1. Bei Beauftragung
- Gericht soll bei Beauftragung von Dolmetscherin und Dolmetscher bewusst vorgehen:
- Auswahl der Dolmetscherin oder des Dolmetschers soll durch Richterin oder Richter selbst und nicht durch Geschäftsstelle
erfolgen; Verzicht auf Ladung über Agenturen: Dolmetscherinnen bzw. Dolmetscher sind persönlich zu laden - Bestellung von beeidigter Dolmetscherin / beeidigtem Dolmetscher unter Beachtung der im konkreten Fall erforderlichen
Fachkompetenz soll die Regel sein - Bei Verhinderung der geladenen Dolmetscherin / des geladenen Dolmetschers ist der Auftrag an das Gericht zurück zu geben; eine
Weitergabe des Auftrages durch die ursprünglich Beauftragte / den ursprünglich Beauftragten ist unzulässig - Für ausreichende Zahl von Dolmetscherinnen / Dolmetschern bei Verfahren mit mehreren Beteiligten sorgen
- Vergewissern, welche Sprache / Dialekt tatsächlich notwendig ist
- Bei wenig verbreiteten Sprachen Dolmetscherin / Dolmetscher auch aus weiterer Entfernung holen; Dolmetschen evt. im Wege des Relaisdolmetschen
- Bei Sprachen, die in mehreren Kulturkreisen gesprochen werden, den Kulturkreis beachten (z.B. südamerikanisches Spanisch)
- Evt. bestehende Genderproblematik berücksichtigen (insbes. Bestellung von Dolmetscherinnen bei Frauen als Opfer in Vergewaltigungsprozessen)
2. Während des Einsatzes
- Einführendes Gespräch zwischen Richterin / Richter und Dolmetscherin / Dolmetscher bei entsprechendem Bedarf
- Klärung der Dolmetschtechnik wo nötig, z.B. bei Personen mit Sprachdefiziten in der Mutter- oder Kultursprache
- Bei Sitzordnung beachten, dass Dolmetscherin / Dolmetscher alles hören und sehen und möglichst seitlich neben der Person, für die
übersetzt wird, sitzen kann - Gericht sollte sich gegenüber Angeklagter / Angeklagtem und Parteien vorstellen
- Richterin / Richter führt Verfahren so, als sei Dolmetscherin / Dolmetscher nicht anwesend (Partei direkt ansprechen, Dolmetscherin / Dolmetscher übersetzt wörtlich etc.)
- Bei längeren Verfahren Pausen vorsehen (ca. nach jeweils 45 min)
- Zu übersetzende Dokumente Dolmetscherin / Dolmetscher (möglichst vorher) zur Verfügung stellen, wenn noch nicht mit der Ladung geschehen
- Sprechgeschwindigkeit der Dolmetsch-Situation anpassen, insbesondere bei der Verlesung von Dokumenten
- Offenheit der Richterin / des Richters gegenüber Hinweisen der Dolmetscherin / des Dolmetschers zu etwaigen Missverständnissen, z.B. über die Bedeutung bestimmter Ausdrücke oder Gesten
- Gericht sollte in geeigneten Fällen die Möglichkeit in Betracht ziehen, Dolmetscherin / Dolmetscher (mit zusätzlicher Vereidigung) als Kulturmittlerin / Kulturmittler oder Sachverständigen / Sachverständige in der zu übersetzenden Sprache zu beauftragen, soweit sie / er hierzu qualifiziert ist; aber: keine Aufforderung zur Rollenüberschreitung (wie etwa Fragen nach Glaubwürdigkeit eines Zeugen / einer Zeugin)
III. Forderungen zum Asyl- und Ausländerrecht
- Kompetente anwaltliche Beratung unter Einbeziehung einer / eines fachlich geeigneten Dolmetscherin / Dolmetschers; nicht: Familienangehörige / Familienangehöriger
- Präsentation der gesamten Verfolgungsgeschichte in der Klageschrift; Hinweis auf ein eingeschränktes Erinnerungsvermögen wegen
psychischer Belastungen, Erkrankung, sexuell motivierter Verfolgung usw. - Gericht soll bei interkulturellen Fragestellungen Gutachten einholen
- Gutachterinnen und Gutachter mit interkultureller Kompetenz auswählen
IV. Forderungen zum Familienrecht
- Nicht nur Familienrichterinnen und Familienrichter, sondern auch Verfahrensbeistände und Sachverständige sollen über interkulturelle
Kompetenz verfügen - Sich mit familienspezifischen kulturellen Besonderheiten (z.B. Hierarchie in der Familie, Bedeutung der innerfamiliären
Streitschlichtung) vertraut machen - Aufenthalts- und ausländerrechtliche Konsequenzen sollen bei familiengerichtlichen Entscheidungen bekannt sein
- Einzelfallbetrachtung zur Vermeidung von Halbwissen durch „Wissen aus Erfahrung“
V. Forderungen zum Strafrecht
- Sensibilität für die Betrachtungsweisen des Machtverhältnisses Justiz- Beschuldigte / Zeugen bei Beteiligten anderer Hautfarbe entwickeln
- Durch Kenntnis der Ausbildung, besonderer Fachkenntnisse und der Standards der Dolmetscherinnen und Dolmetscher deren Auswahl
optimieren - Einbeziehung von Expertinnen und Experten außerhalb der Gerichte und Staatsanwaltschaften
Verbindungsrichter Strafrichter / Strafrichterin Bundesamt für Justiz
– regionale Netzwerke
– Einbeziehung von Sachverständigen zur interkulturellen Kompetenz
– Einbeziehung von Sprach- und Integrationsmittlerinnen und -mittlern wie z.B. SPRINT Wuppertal - Standards für die Kommunikation
– leichte Sprache und verständliche Fragen (einfache Sätze)
– Dokumentation der Vernehmung
– Videovernehmung - flächendeckende kulturspezifische Unterstützung für Opfer
- Klärung der Aufgaben der Dolmetscherin / des Dolmetschers zu Beginn des Ermittlungsverfahrens
– prüfen, ob dieselbe Dolmetscherin / derselbe Dolmetscher für TÜ und Hauptverhandlung geeignet ist
– Standards für Absprachen mit der Polizei zum Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern (z.B. Erläuterung von Ermittlungsmaßnahmen, Beachtung besonderer kulturbedingter Empfindsamkeiten, Vermeidung von Gefährdungen durch zur community gehörender Dolmetscherinnen / Dolmetscher, Beachtung traumatisierender Vorerfahrungen wie kulturbedingte Verfolgung und Bedrohung)
– Überprüfung und ggf. Ergänzung der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV)
– Fortbildung zur Auslegung von Tatbestandsmerkmalen und Rechtsbegriffen, die durch kulturspezifische Aspekte beeinflusst werden (z.B. niedrige Beweggründe, Beleidigung, Fluchtgefahr) - Analyse und Vorbereitung der Kommunikationssituation des konkreten Falles in der Hauptverhandlung im Hinblick auf besondere Erfordernisse
– Aufzeichnung der gesamten Hauptverhandlung?
– Erläuterung der Aufgabenverteilung zu Beginn der Verhandlung , insbesondere für unverteidigte Angeklagte
– Dolmetscherinnen / Dolmetscher auch für Gespräche mit Verteidigerinnen / Verteidigern?
– interkulturelle Begleiterinnen / Begleiter zulassen, vergleichbar mit „Weißem Ring“ für Opfer?
– Dolmetscherin / Dolmetscher für Opferzeuginnen und Opferzeugen, wenn beteiligt
– Dolmetscherin / Dolmetscher für jeden einzelnen Angeklagten?
VI. Forderungen zur Mediation
- Festlegung von Ausbildungsstandards für interkulturelle Kompetenz für Mediatorinnen und Mediatoren
- Gericht sollte bei interkulturellen Situationen Mediation empfehlen (siehe Gesetzentwurf zum Mediationsgesetz, Richtlinie der EU)
- mehr Informationen zur Mediation und Kosten
- Bei Empfehlung der Mediation sollte PKH anwendbar sein (Kostenübernahme)
- Setting der Mediation sollte auf interkulturelle Situation abgestimmt sein (z.B. Mediatorenteam, ggf. weiblich/männlich; Gewährleistung der kulturellen Vertretung beider Medianden)
Evangelische Akademie Bad Boll, im Oktober 2011
Den Anhang mit den Bad Boller Forderungen 2010 finden Sie in dem kompletten Gesamtdokument nachfolgend im Download.