Offener Brief an den Botschafter der Türkei
Strafverfahren gegen Staatsanwälte
Wir – die Neue Richtervereinigung (NRV) – schreiben Ihnen um unserer tiefen Sorge über die gegen die Staatsanwälte und Polizeibeamten Süleyman (….) eingeleiteten Strafverfahren und vor allem über die derzeit gegen die Vorgenannten vollstreckte Untersuchungshaft Ausdruck zu verleihen.
Der von unserem Dachverband MEDEL (Magistrats Européens pour la Democratie et les Libertés) entsandte Prozessbeobachter Richter Dr. George Almpouras hat uns berichtet, dass Anlass der Strafverfolgung ein Vorfall an der türkisch-syrischen Grenze war. Nachdem dort die örtliche Polizei Hinweise auf illegale Waffenlieferungen erhalten hatte, stoppte diese einen Lkw-Konvoi mit Fahrtziel Syrien und schaltete die örtliche Staatsanwaltschaft ein. Die oben genannten Staatsanwälte begaben sich vor Ort und ließen die Lkw’s durchsuchen. Eine augenscheinlich zwischenzeitlich ergangene Anweisung vorgesetzter Stellen, die Durchsuchung zu unterlassen, ließen sie in Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages zur Strafermittlung unbeachtet. Sie stellten fest, dass die Lkw’s verbotene Waffenlieferungen enthielten. Nach dieser Feststellung offenbarten sich Begleitpersonen des Konvois als Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes. Im weiteren Verlauf erging Weisung, den Konvoi passieren zu lassen – woraufhin dieser seinen Weg über die türkische Grenze nach Syrien fortsetze.
In Reaktion auf diesen Vorfall wurde nicht etwa eine Untersuchung über die fragwürdigen Hintergründe dieser illegalen Waffenlieferung sowie deren Deckung durch diensthohe Stellen eingeleitet. Vielmehr wurde ein Strafverfahren gegen die oben genannten Staatsanwälte und Polizeibeamten wegen Geheimnisverrats, Gefährdung der Staatssicherheit und Bildung einer kriminellen Organisation eingeleitet – diese wurden in Untersuchungshaft genommen. Die oben Genannten befinden sich nunmehr im fünften Monat in Haft.
Am 01.10.2015 unternahm Dr. George Almpouras einen Versuch, das gegen die oben Genannten eingeleitete Strafverfahren zu beobachten. Das mit dem Vorgang befasste türkische Gericht verhandelte zunächst öffentlich, schloss dann jedoch ohne Begründung und unter Protest der Verteidigung die Öffentlichkeit aus.
Die NRV zeigt sich über diese Vorgänge äußerst besorgt.
- Wenn die Staatsanwaltschaft – wie hier – Hinweise auf illegale Waffentransporte hat, muss sie eingreifen und ermitteln. Die Staatsanwälte und Polizeibeamten in Reaktion auf diese Amtsausübung in Haft zu nehmen, ist Unrecht – nach allen internationalen Standards, insbesondere auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ein derartiges Vorgehen stellt auch eine neue Grenzüberschreitung in der Justizgeschichte der modernen Türkei dar.
- Gerichtsverhandlungen müssen grundsätzlich öffentlich durchgeführt werden – auch in der Türkei als Signatarstaat der EMRK und Mitglied des Europarates. Hieran gemessen ist uns unverständlich weshalb hier die zunächst zugelassene Öffentlichkeit von der weiteren Verhandlung ausgeschlossen wurde. Ein Grund hierfür ist nicht ersichtlich, denn über den illegalen Waffentransport war ausführlich in nationalen und internationalen Medien berichtet worden. Irgendwelche Geheimnisse, die im Strafverfahren noch geschützt hätten werden können, gab es danach nicht mehr. Entsprechend erscheint es unangebracht, in diesem offensichtlich politisch motivierten Verfahren die Öffentlichkeit auszuschließen.
- Die Angeklagten befinden sich nunmehr seit 5 Monaten in Haft. Dies ist evident unverhältnismäßig und weckt den dringenden Verdacht, dass hier die Justiz insgesamt eingeschüchtert werden soll
Die NRV drückt hiermit Ihre Hoffnung aus, dass die Türkei schnellstmöglich diese besorgniserregenden Vorgänge korrigiert und die Inhaftierten aus der Haft entlässt. Uns liegen mittlerweile weitere Berichte von fragwürdigen Inhaftnahmen von Richtern und Staatsanwälten wegen derer Dienstausführung vor, zuletzt von Anfang Oktober 2015. Auch insoweit werden wir die Entwicklung – auch über unseren Dachverband MEDEL – weiter beobachten. Unabhängige Prozessbeobachtung darf nicht beschränkt werden.