Zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur weiteren Digitalisierung der Justiz
Auf dem Weg zur Digitalisierung der Justiz stellt der Referentenentwurf allenfalls einen kleinen Schritt dar. Soweit mit dem Entwurf für Umfangsakten als Übermittlungsweg physische Datenträger vorgesehen werden, wird sogar ein Schritt in die vollkommen falsche Richtung eingeschlagen. Im Einzelnen:
Einführung einer Hybridaktenführung in allen Verfahrensordnungen für geheimhaltungsbedürftige Aktenbestandteile, für vor der verpflichtenden Einführung der elektronischen Aktenführung in Papier begonnene Akten sowie – während der Pilotierungsphase – für elektronisch begonnene Akten
Die Hybridaktenführung wird vielfach zweckmäßig sein. Sie vermeidet unnötigen Scanaufwand. Besonders deutlich wird dies bei Verfahren, die teilweise jahrzehntelang anhängig sind, etwa langfristige Betreuungssachen. Die Regelung schafft Flexibilität. Soweit von den Verordnungsermächtigungen Gebrauch gemacht wird, kann jeweils pragmatisch zwischen Nutzen und Aufwand abgewogen und entschieden werden, ob die vor der Umstellung auf die elektronische Aktenführung entstandenen Aktenbestandteile digitalisiert oder in Papierform belassen werden.
Möglichkeit für Bevollmächtigte, (gesetzliche) Vertreter und Beistände (für die Strafprozessordnung beschränkt auf professionelle Verfahrensbeteiligte), auch Scans von schriftlich einzureichenden prozessualen Anträgen und Erklärungen der Naturalbeteiligten oder Dritten formwahrend elektronisch zu übermitteln
Gegen die vorgenannten Regelungen sind keine Einwände zu erheben. Als Anwendungsfall ist etwa an die bei der Stellung eines Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfeantrags beizubringende Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen oder Vollmachtsurkunden zu denken. Diese Erklärungen können nach der Neuregelung als gescanntes Dokument durch die Bevollmächtigten im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs übermittelt werden. Dies vermeidet auf Seiten der Bevollmächtigten Medienbrüche und auch auf Seiten des Gerichts, soweit auch dort bereits eine digitale Aktenführung praktiziert wird. Im Ergebnis kommt der Regelung bezogen auf die Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe indes nur klarstellende Funktion zu. Die Rechtsprechung entnimmt § 117 Abs. 2 ZPO kein Schriftformerfordernis und geht auch bisher bereits davon aus, dass die Übermittlung der Erklärungen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs durch die Bevollmächtigten als eingescanntes Dokument zulässig ist (Beschluss des OLG Dresden vom 04.04.2018 – 4 W 325/18 -, juris Rn. 6; Beschluss des LAG Hamm vom 06.12.2021 – 14 Ta 410/21 -, juris Rn. 10). Der Umfang der Erweiterung der Möglichkeit zur Beibringung von Anträgen und Erklärungen der Naturalbeteiligten im Wege des elektronischen dürfte daher überschaubar ausfallen.
Einführung einer Formfiktion für in elektronisch bei Gericht eingereichten Schriftsätzen enthaltene empfangsbedürftige Willenserklärungen
Bezogen auf das Arbeitsrecht ist die Regelung des RefE zu § 46h ArbGG überraschend, denn durch § 623 Hs. 2 BGB ist zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen die elektronische Form für Kündigungen ausgeschlossen. Die konstitutive Schriftform dient der Beweissicherung und hat insbesondere eine Warnfunktion (Müller-Glöge, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Auflage (2023), § 623 Rn. 1 mit weiteren Nachweisen). Inwieweit das strenge Festhalten an der Schriftform noch geboten ist, lässt sich angesichts der Fortentwicklung der Kommunikationspraxis diskutieren. Sollte nach bereits erfolgter oder noch vorzunehmender Bewertung im Gesetzgebungsverfahren an § 46h ArbGG in der Entwurfsfassung festgehalten werden, dürfte eine Klarstellung des Verhältnisses zu § 623 BGB geboten sein. Ferner wäre zu erwägen, zum Schutz des Arbeitnehmers im Arbeitsgerichtsverfahren, in dem kein Anwaltszwang herrscht, für die Kündigungserklärung eine Regelung aufzunehmen, dass diese durch gesonderte Erklärung erfolgen muss und nicht versteckt innerhalb eines langen Schriftsatzes.
Gleiches gilt im Übrigen für Kündigungen im Wohnraummietrecht, die gemäß § 568 Abs. 1 BGB der Schriftform bedürfen. Die geplante Neuregelung im RefE zu § 130e ZPO löst zwar das Problem, dass der Schriftsatz-Kündigung durch eine anwaltliche Vertretung der Einwand der Formunwirksamkeit nicht mehr entgegengehalten werden kann. Aufgrund der analog zur strukturellen Unterlegenheit im Arbeitnehmer:innen-Arbeitgeber:innen-Verhältnis bestehenden Situation im Mieter:innen-Vermieter:innen-Verhältnis wäre es naheliegend, auch bezogen auf das Wohnungsmietrecht eine dem § 623Hs. 2 BGB entsprechende Regelung für die Kündigungserklärung durch Ergänzung des § 130e ZPO RefE zu implementieren, dass diese durch eine gesonderte Erklärung zu erfolgen hat und nicht innerhalb eines eventuell langen Schriftsatzes erklärt werden darf.
Im Übrigen sind gegen die geplanten Neuregelungen keine Bedenken erkennbar. Sie tragen der veränderten Kommunikationskultur im außergerichtlichen Rechtsverkehr Rechnung.
Erleichterungen bei der Strafanzeigeerstattung und Strafantragstellung
Die Umsetzung erfolgt im RefE durch § 158 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 StPO. Die entsprechende Erleichterung der Strafanzeigeerstattung und Strafantragstellung ist überfällig. Ein Rechtsgrund dafür, entsprechende Erklärungen besonderen Formerfordernissen zu unterwerfen, ist nicht erkennbar. Bei der Strafanzeige geht es in erster Linie um den Wissenstransfer, den Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von Straftatverdachten zu verschaffen, damit diese sodann dem Legalitätsprinzip entsprechend Ermittlungen anstellen können. Da die Strafverfolgungsbehörden selbst anonyme Hinweise zu beachten haben, sind Formanforderungen in diesem Bereich unangebracht. Soweit der Gesetzgeber es bei absoluten Antragsdelikten, etwa beim Hausfriedensbruch gemäß § 123 StGB oder der Beleidigung gemäß §§ 185, 194 Abs. 1 S. 1 BGB, dem Geschädigten überlässt, ob die Strafverfolgung stattfinden soll, ist es sachgerecht, für den Strafantrag gemäß der Regelung im RefE zu § 158 Abs. 2 StPO qualifiziert zu fordern, dass die Identität und der Verfolgungswille der anzeigenden Person erkennbar sein müssen, zumal damit bezüglich der Wahl des Kommunikationsmittels keine Einschränkung erfolgt.
Möglichkeit, in der Revisionshauptverhandlung die physische Anwesenheit der Angeklagten, der Verteidigerinnen und Verteidiger und der Sitzungsvertretung der Staatsanwaltschaft durch eine Zuschaltung im Rahmen einer Videokonferenz zu ersetzen.
Die Eröffnung der Möglichkeit zur Teilnahme an der Revisionsverhandlung in Strafsachen im Wege der Videoverhandlung für Angeklagte, Verteidiger:innen und die Sitzungsvertretung der Staatsanwaltschaft ist zeitgemäß und sachgerecht. Es werden, da es sich nicht um eine Tatsacheninstanz handelt, ausschließlich Rechtsfragen verhandelt. Hierzu bedarf es keines persönlichen Eindrucks des Gerichts vom Angeklagten, weshalb es diesem nach § 350 Abs. 2 S. 1 StPO ohnehin freigestellt ist, teilzunehmen oder fernzubleiben. Die Rechte der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft werden überdies durch die nach dem RefE vorgeschlagene Bestimmung zu § 350 Abs. 3 StPO nicht beschnitten. Es steht diesen frei, physisch bei der Berufungsverhandlung anwesend zu sein. Eine Zuschaltung im Rahmen einer Videokonferenz ist nach dem RefE nur „auf ihren jeweiligen Antrag“ vorgesehen.
Einführung der Textform für die anwaltliche Vergütungsberechnung
Bei der anwaltliche Vergütungsberechnung nicht mehr zu fordern, dass diese unterzeichnet ist, sondern nurmehr die Textform zu verlangen, ist überfällig. Ein Rechtsgrund, an Rechtsanwält:innen höhere Anforderungen zur Übermittlung ihrer Rechnungen zu stellen, als von anderen Akteur:innen im Rechtsverkehr gefordert, ist nicht erkennbar. Konsequent wäre es, die Textform zur Mitteilung der Vergütungsberechnung auch bei Notar:innen und Steuerberater:innen ausreichen zu lassen. Für Notare lässt der RefE den § 19 Abs. 1 S. 1 GNotKG unberührt, der weiterhin die Schriftform verlangt, und für Steuerberater den § 9 Abs. 1 S. 1-2 StBVV, der die Verwendung der Textform von der Zustimmung der Auftraggeber:innen abhängig macht. Auch für diese beiden Berufsgruppen ist nicht erkennbar, weshalb für die Übermittlung ihrer Rechnungen andere Standards als sonst im Rechtsverkehr gefordert, gelten sollen. Noch weniger erkennbar ist schließlich, weshalb sie von der für Rechtsanwält:innen geplanten Erleichterung durch das Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz ausgeschlossen bleiben sollen.
Ausnahmen von der elektronischen Aktenübermittlung bei umfänglichen Akten
Es ist zumindest mittelfristig inakzeptabel, dass Umfangsakten mittels physischer Datenträger übermittelt werden sollen, wenn im elektronischen Rechtsverkehr die bekanntgemachten Höchstgrenzen für die Anzahl oder das Volumen elektronischer Dokumente nicht eingehalten werden. Allein positiv ist, dass die zulässigen Datenträger auf Bundesebene festgelegt werden sollen. Im Übrigen ist jedoch festzustellen, dass die Übermittlung durch physische Datenträger antiquiert ist. Es werden außerhalb der Justiz fortwährend Datenmengen verschoben, welche die Größe selbst umfangreichster Justizverfahren deutlich übersteigen, dies auch datensicher. Die Übermittlung durch physische Datenträger kann daher allenfalls vorübergehend als akzeptabel angesehen werden, bis eine anderweitige technische Lösung gefunden worden ist. Physische Datenträger bergen erhebliche Gefahren hinsichtlich der IT-Sicherheit, insbesondere bei Mehrfachnutzung. Es zeigt sich überdies bei den neueren Rechnern, dass ein entsprechender Datentransfer nicht mehr dem Stand der Technik entspricht. CD-Laufwerke sind meistens nicht mehr vorhanden. In der Regel ist nurmehr ein USB-Anschluss vorhanden. Alternativ zur Übermittlung durch physische Datenträger wäre beispielsweise daran zu denken, das Akteneinsichtsportal hinsichtlich der Kapazitäten so auszulegen, dass es für den Transfer von Umfangsakten nutzbar wird.
Gesamtfazit
Der Gesetzestitel weckt eine Erwartungshaltung, welcher der Inhalt nicht gerecht wird. Es handelt sich um sehr begrenzte Anpassungen. Die weitere Digitalisierung der Justiz wird der Gesetzentwurf nur marginal voranbringen. Das Primärproblem ist strukturell. Die Bundesländer und die Länderverbünde sind mit der Digitalisierung der Justiz erkennbar überfordert. Es ist nicht damit zu rechnen, dass bis 2026 die elektronische Aktenführung flächendeckend eingeführt ist. Die Qualität der bestehenden Lösungen ist überdies sehr verschieden und vielfach unzureichend. Die föderalen Insellösungen haben zu einer zersplitterten digitalen Infrastruktur geführt. Neben den Problemen bei der Entwicklung und Implementierung der Lösungen zur elektronischen Aktenführung beschäftigt die Praxis die Kompatibilität der Systeme. Schon die länderübergreifende Aktenübermittlung ist problembehaftet. Zum Funktionieren des bundesweiten elektronischen Rechtsverkehrs müsste künftig jedes Update der betreffenden Softwarelösungen auf seine Auswirkungen im Zusammenspiel mit der in anderen Bundesländern im Einsatz befindlichen Software geprüft werden. Es sind dazu bisher weder die Strukturen noch die personellen Ressourcen erkennbar. Das aktuelle Nebeneinander verschiedener Lösungen ist ineffektiv, fehleranfällig und teuer. Ein Gesetz, dass die weitere Digitalisierung der Justiz substanziell voranbringen soll, müsste hier ansetzen. Es bedarf der Vereinheitlichung der technischen Rahmenbedingungen. Dringend benötigt werden bundeseinheitliche Vorgaben. Es könnte in das GVG eine Verordnungsermächtigung aufgenommen werden, über die dann in einer Bundesverordnung die Mindeststandards und Rahmenbedingungen (Hardware, Software, Support) einheitlich und auf einem guten und sicheren technischen Standard geregelt werden. Es ist überdies auch von der Justizministerkonferenz zu fordern, dass eine Abkehr vom Länder-Klein-Klein eingeleitet wird und eine Verständigung auf einheitliche Standards erfolgt.
Die vielfach vermutete und den Anwender:innen in der Justiz immer wieder unterstellte Technikfeindlichkeit ist tatsächlich kaum anzutreffen. Es besteht unter den Mitarbeiter:innen ein hohes Maß an Bewusstsein dafür, dass die Justiz sich nicht von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abkoppeln darf. Überdies behindert der Status quo flexibles und familienfreundliches Arbeiten. Dies begründet angesichts der Personalkonkurrenz in allen Dienstgruppen einen eklatanten Wettbewerbsnachteil. Es darf daher erwartet werden und wird gefordert, dass Abhilfe geschaffen wird durch Gesetze, welche die weitere Digitalisierung der Justiz umfassend vereinheitlichen und befördern.
Auf dem Weg zur Digitalisierung der Justiz stellt der Referentenentwurf allenfalls einen kleinen Schritt dar. Soweit mit dem Entwurf für Umfangsakten als Übermittlungsweg physische Datenträger vorgesehen werden, wird sogar ein Schritt in die vollkommen falsche Richtung eingeschlagen. Im Einzelnen: