Zum Entwurf eines Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 – neue, schärfere Leistungsminderungen im SGB II

17. Januar 2024| Bundesvorstand

Die Neue Richtervereinigung macht vor Erlass des Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 auf gravierende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die beabsichtigte Einführung einer den gesamten Regelbedarf umfassenden Leistungsminderung (vormals: Sanktion) und die drohende Zweckverfehlung des Vorschlages aufmerksam.

Inhalt des Entwurfs

Der Vorschlag knüpft in seinem Artikel 5 an Praxisberichten aus Jobcentern an, dass einige wenige Beziehende von Bürgergeld zumutbare Arbeitsaufnahmen beharrlich verweigern würden. Vorschlag ist die Einführung einer den gesamten Regelbedarf (also nicht die Leistungen für die Kosten der Unterkunft) betreffenden Leistungsminderung bei solchen Betroffenen, die innerhalb eines Jahres bereits eine Leistungsminderung erhalten haben, wenn sie sich weigern, eine konkret bestehende zumutbare Arbeitsmöglichkeit zu nutzen. Die Leistungsminderung soll solange dauern, wie das Arbeitsangebot realisierbar ist, maximal zwei Monate. Mit dem Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme endet die Minderung ebenfalls. Die Betroffenen müssen vorher gehört werden und haben die Möglichkeit, wichtige Gründe für ihre Weigerung vorzubringen.

Verschuldung vermeiden

Damit erfüllt der Regelungsvorschlag zwar wesentliche Forderungen des BVerfG (Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, Rn. 209), übersieht aber Aspekte, die dem BVerfG ebenfalls besonders wichtig waren. So hat das BVerfG den Nachweis der Eignung der Minderung verlangt und konnte diesen für Vollsanktionierungen nicht erkennen (ebd. R. 205). Ein Aspekt, der für das BVerfG gegen die Eignung derart umfangreicher Leistungsminderungen sprach, war in dadurch entstehenden, sehr belastenden Schulden zu sehen (BVerfG ebd. Rn. 194, 206). Diese Gefahr wird durch den Vorschlag nicht hinreichend ausgeräumt, denn auflaufende Stromschulden und Zahlungsprobleme bei Ausgaben für Kommunikation, Verkehr und Gesundheitskosten (Zuzahlungen und verschreibungsfreie Medikamente) werden regelmäßig entstehen und nach dem Vorschlag nicht durch Sachleistungen aufgefangen. Sie belasten die Betroffenen nicht nur in besonderer Weise, sondern behindern sie in der Wahrnehmung von Aktivitäten zur Arbeitsaufnahme.

Berücksichtigung psychischer Beeinträchtigungen von Amts wegen

Wiederholt hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass in besonderer Weise psychische Beeinträchtigungen gegen eine Eignung der gravierenden Minderungen sprechen (BVerfG ebd. Rn. 59, 176, 194). Bei einem Drittel der nach dem SGB II Berechtigten werden psychiatrische Diagnosen gestellt (BVerfG ebd. Rn.59). Die richterliche Erfahrung zeigt, dass dies oftmals von den Jobcentern nicht berücksichtigt wird. Das liegt insbesondere daran, dass das bisherige Gesetz und so auch der Entwurf erwarten, dass die Betroffenen sie entlastende Umstände selbst vorbringen. Gerade bei psychischen Beeinträchtigungen, die meist nicht den Grad der Geschäftsunfähigkeit erreichen, fehlt es aber besonders oft an der erforderlichen Krankheitseinsicht, ohne die diese medizinischen Aspekte nicht angesprochen werden. Dabei sind für Außenstehende sehr oft deutliche Anhaltspunkte erkennbar, die jedoch von den Jobcentern häufig ignoriert und oft erst in den Gerichtsverfahren thematisiert werden.

Werden die Aspekte der Verschuldung, der verschiedenen Vermittlungshemmnisse und psychischer Beeinträchtigungen strukturell nicht von den Jobcentern beachtet, verfehlen auch die Bestimmungen zu den Leistungsminderungen ihre Zwecke bei Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums.

Sparziele völlig unrealistisch

Der Entwurf sieht ein Einsparpotenzial von jährlich 170 Mio. Euro. Die Neue Richtervereinigung hält dies für völlig unrealistisch. Um dieses Einsparpotenzial zu erreichen, müssten jährlich mindestens 150.000 Sanktionen auf der Grundlage der Neuregelung wirksam werden. Dies erscheint angesichts dessen, dass etwa im Jahr 2021 nur ca. 190.000 Sanktionen insgesamt verfügt wurden (Bundesagentur, Presseinfo Nr. 17 v. 11.04.2022) und bekannt ist, dass ca. drei Viertel der Sanktionen Meldeverstöße betrifft (Bundesagentur: Arbeitsmarkt kompakt, statistik.arbeitsagentur.de), schon statistisch nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus wird der Hinweis des Entwurfs, dass er nur einige wenige „Verweigerer“ betrifft, nicht hinreichend ernst genommen. Schließlich wird übersehen, dass gerade die hartnäckigen „Verweigerer“ typischerweise den Rechtsweg ausschöpfen. Da die neue Regelung in ihren verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen deutlich komplizierter ist als das bestehende Recht der Leistungsminderungen und die Gerichte konstatieren, dass gerade bei „Verweigerern“ Behördenfehler häufig auftreten, steht zu erwarten, dass der erhoffte Einsparungseffekt durch den zu betreibenden Aufwand im Verfahren bis zur Verfügung der Leistungsminderung und sodann im Widerspruchs- und Gerichtsverfahren vollständig nivelliert, vielmehr in sein Gegenteil verkehrt werden wird.

Auf Evaluation nicht verzichten

Befremden löst der ausdrückliche Verzicht auf eine gezielte Evaluierung aus, nachdem das BVerfG gerade die vorherigen Regelungen zu den 30 Prozent der Leistungen überschreitenden Sanktionen wegen des fehlenden Eignungsbelegs kassiert hatte. Es gibt bislang keine neuen Erkenntnisse, die eine Eignung derart gravierender Sanktionen zur Verbesserung der Mitwirkung und zur Arbeitsaufnahme belegen. Im Hinblick auf den besonderen grundrechtlichen Bezug sollte eine gezielte Evaluierung vorgeschrieben werden.

Gesetzgebung mit Augenmaß, nicht im Schnellverfahren mit zweifelhaften Zwecken

Das BVerfG hat betont, dass auch Personen, denen „unwürdiges“ Verhalten oder sogar schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind, den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht verlieren (BVerfG a.a.O. Rn. 120). Vor diesem Hintergrund bedürfen die gesetzgeberischen Entscheidungen einer besonders sorgfältigen Abwägung, die nicht in einem gesetzgeberischen Schnellverfahren mit fehlerhafter Zweckausrichtung, nämlich zur Realisierung fiskalischer Interessen statt der Ausrichtung auf die teilhabeorientierte Mitwirkung, getroffen werden sollten.

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