07.03.2016 | Bundesmitgliederversammlung

Menschenrechte nicht zur Handelsware degradieren

Erklärung der Bundesmitgliederversammlung 2016

Die Bundesmitgliederversammlung der Neuen Richtervereinigung (NRV) hat sich mit den aktuellen Gesetzesänderungen im Asyl- und Flüchtlingsrecht befasst und diese vor dem Hintergrund europäischer Handlungsspielräume mit fachkundigen Expertinnen und Experten diskutiert.
Folgende Erklärung wurde verabschiedet:
Die aktuelle Krise in Europa und in Deutschland erfordert in erster Linie eine wirksame Bekämpfung von Fluchtursachen durch Eintreten für die Menschenrechte in den Herkunftsstaaten und eine gerechte globale Wirtschafts- und Sozialordnung. Stattdessen werden Menschenrechte zur Handelsware degradiert.
Getrieben von Pegida, AfD und CSU und aus Angst vor der nächsten Wahl werden in Deutschland die Grundrechte der Flüchtlinge und die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensweisen im Asyl- und Ausländerrecht zunehmend zur Disposition gestellt.
Getrieben von dem Bestreben, „Handlungsfähigkeit“ zu demonstrieren, wird gesetzgeberischer Aktionismus entfaltet, statt der zunehmenden Gewalt von rechts und der allgemeinen Stimmungsmache mutig entgegenzutreten:

  1. Gesetzgebung erfolgt in einer Eile und Form, die einen demokratischen Meinungsbildungsprozess nicht mehr zulassen. Auf die Vereinbarkeit der durch das Parlament getriebenen Gesetzesänderungen mit höherrangigem Recht wird offenkundig kein Wert mehr gelegt und ihre praktische Sinnhaftigkeit nicht hinterfragt.
  2. Die Vorfälle aus der Silvesternacht in Köln werden zum Anlass genommen, die ausländerrechtliche Präventivmaßnahme der Ausweisung zum strafrechtlichen Sanktionsinstrument umzufunktionieren. Auch wenn für Ausländer, die zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden, eine positive Sozialprognose besteht, soll trotzdem eine negative Gefahrenprognose getroffen werden.(1) Der Ausweisungsschutz, der für Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge und Asylsuchende nach Europarecht gilt, wird außer Acht gelassen. Ausländer werden auf diese Weise doppelt bestraft.
  3. Weiter sollen unter Missachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben die Herkunftsstaaten Marokko, Tunesien und Algerien als verfolgungssicher definiert werden, um ihre asylsuchenden Staatsangehörigen einem beschleunigten Verfahren zuzuführen und sie möglichst schnell wieder in ihre Heimat abschieben zu können. Eine sorgsame Prüfung der Lage in den drei Staaten hat offenbar nicht stattgefunden. Eine überzeugende Begründung, wie sie das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber verlangt, liefert der Gesetzentwurf nicht.(2)
  4. Die mit dem sog. Asylpaket II angestrebte Verfahrensbeschleunigung (3) in besonderen Aufnahmeeinrichtungen geht vorrangig auf Kosten der Schutzsuchenden. Eine Prüfung und Entscheidung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) binnen einer Woche, die strenge Residenzpflicht und die Verkürzung des Rechtsschutzes auf eine Woche erlauben weder eine angemessene Prüfung des Schutzgesuches noch eine effektive anwaltliche Betreuung. Dabei bleibt der tatsächliche Beschleunigungseffekt insgesamt auf der Strecke. Allein die Abarbeitung der beim BAMF anhängigen fast 800.000 Altverfahren wird noch zwei Jahre in Anspruch nehmen. Hinzu kommen weitere 300.000 bis 400.000 Verfahren von Personen, die noch auf ihren Termin zur Antragstellung warten müssen.
  5. Der gesetzgeberische Aktionismus zwecks Beschleunigung der Asylverfahren wird sich im Ergebnis kontraproduktiv auswirken. Die mit heißer Nadel gestrickten Gesetzesänderungen werden zu erheblichen Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung führen und vermeidbare gerichtliche Auseinandersetzungen um verfahrensrechtliche Zwischenfragen und Vermutungswiderlegungen produzieren. Verstöße gegen höherrangiges Recht werden zu Vorlageverfahren zum Bundesverfassungsgericht und zum Europäischen Gerichtshof führen.
  6. Die auf internationaler Ebene unternommenen politischen Bemühungen der Bundesregierung muten eher als Kampf gegen die Flüchtlinge denn als Bekämpfung von Fluchtursachen und Menschenrechtsverletzungen an. Die Bereitschaft der türkischen Regierung, Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa zu hindern, wird teuer erkauft. Im Gegenzug wird „aus Gründen der Staatsraison“ über die Verfolgung der Kurden in der Türkei und die Außer-Kraft-Setzung demokratischer Grundwerte geschwiegen. Für die künftige Rücknahme marokkanischer Flüchtlinge wird die Annexion der Westsahara hingenommen.
  7. Die von der Lage der flüchtenden Menschen losgelöste Fixierung auf die Begrenzung des Flüchtlingsstroms und die daraus resultierende Diskussion um „Obergrenzen“ gefährden das Zusammenwachsen Europas und setzen das System der gemeinsamen Verantwortung außer Kraft. Dabei kommt den ursprünglichen Schengen-Staaten eine besondere Verantwortung zu. Während Deutschland fünf Jahrzehnte gebraucht hat, um sich als Einwanderungsland zu begreifen, wurde den ehemaligen Ostblockstaaten bei der Aufnahme in die EU ein europäisches Gesamtsystem übergestülpt, ohne ihnen die Chance eines Hineinwachsens in dieses Gesamtsystem zu lassen. Im Übrigen verbieten sich sowohl nationale als auch eine EU-weite Obergrenze für spontan einreisende Flüchtlinge. Denn zumindest nach europäischem Recht hat jeder Schutzsuchende einen Anspruch auf individuelle Anhörung und Prüfung seines Gesuchs.


Aus Sicht der NRV gilt Folgendes:

  • Das Eintreten für Grund- und Menschenrechte ist Teil der europäischen Identität. Deshalb dürfen wir auch in der aktuellen Situation die Not der Menschen nicht aus den Augen verlieren. Fluchtursachen wirksam bekämpfen heißt, sich immer und überall für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen.
  • Auch gegenüber der Türkei bedarf es eines konsequenten Eintretens für Menschenrechte und Demokratie. Sie kann für fremde Staatsangehörige kaum ein sicherer Zufluchtsort sein, wenn deren eigene Staatsangehörige vor Verfolgung fliehen und europaweit auf eine Asyl-Anerkennungsquote von mittlerweile 30% kommen.
  • Die Mitgliedstaaten der EU müssen den notwendigen Zusammenhalt Europas im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik solidarisch gewährleisten. Eine bedarfsgerechte und angemessene Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten wäre zugleich eine wirksame Maßnahme gegen die Ausbeutung der Flüchtlinge durch die Schleuser.
  • Die Bundesrepublik Deutschland darf die Einstufung eines Herkunftsstaates als verfolgungssicher nur von der dortigen Rechtslage, der Rechtsanwendung und den allgemeinen politischen Verhältnissen abhängig machen (Art. 16a Abs. 3 GG); sie ist kein Instrument der Kriminalitätsbekämpfung.
  • Um eine Ausweisung zu rechtfertigen, darf die positive Sozialprognose, die eine Strafaussetzung zur Bewährung beinhaltet, ausländerrechtlich nicht in eine negative Gefahrenprognose umgemünzt werden.
  • Um Verfahren zu beschleunigen, bedarf es vorrangig einer personell und technisch adäquaten Ausstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Unausgewogene, komplizierte und sich ständig überholende Gesetzesänderungen erschweren nur die rechtskonforme Durchführung der Asylverfahren.


Statt die gemeinsame Verantwortung im Kampf gegen die Fluchtursachen und für eine humanitäre Schutzgewährung wahrzunehmen, verschanzen wir uns und bekämpfen wehrlose Flüchtlinge.

 

Saalfeld, den 6.März 2016

 


(1) Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern, BT-Drs. 18/7537 und 18/7646

(2) Entwurf eines Gesetzes zur Bestimmung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten, BR-Drs. 68/18

(3) Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren,  BT-Drs. 18/7538 und 18/7645

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