06.03.1997 | Bundesmitgliederversammlung
Pressemitteilung
in dubio pro natura
Heidelberger Standpunkt der NRV
Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Umwelt sein, so oder so: entweder als Jahrhundert der ökologischen Wende oder als Jahrhundert der ökologischen Katastrophe.
Wasser, Boden und Luft werden in einem unerträglichen Ausmaß verbraucht und vergiftet. Urwälder werden abgebrannt. Wüsten breiten sich aus. Die Ozonlöcher vergrößern sich von Jahr zu Jahr. Der Bedarf an Energie und Bodenschätzen steigt weltweit. Gleichzeitig wächst die Erdbevölkerung. Die Länder des Südens und des Fernen Ostens erwachen aus ihrem technologischen Dornröschenschlaf und fordern mit Nachdruck ihren Anteil an der Umweltnutzung. Wenn diese Trends anhalten - und nichts spricht derzeit dagegen, verschlechtern sich die Voraussetzungen für das Leben auf diesem Planeten von Tag zu Tag. Irgendwann werden sie fehlen. Die Perversität des Systems zeigt sich am deutlichsten darin, daß seine wirtschaftlichen Erfolge mit Blick auf die Zukunft ebenso zerstörerische wirken wie seine Mißerfolge.
Trotz apokalyptischer Bedrohungsszenarien werden Umweltprobleme auch heute noch wie Plagegeister behandelt, die man glaubt durch beharrliches Wegschauen vertreiben zu können. Wir sägen emsig an dem Ast, auf dem wir alle sitzen, und messen voll Stolz die wirtschaftliche Leistung des Sägens, ohne zu bedenken, daß der Ast, je fleißiger wir sägen, desto schneller abbrechen wird.
Die Jugendlichen wissen das: befragt nach unlösbaren Zukunftsproblemen nennen sie - unbeeindruckt von allen aktuellen Sorgen der Erwachsenen - an erster Stelle die Umwelt. Das sollte uns hellhörig und nachdenklich machen. Es geht beim Umweltschutz - genauer Nachweltschutz - längst nicht mehr um die Frage, wieviele Arten wir uns leisten wollen, sondern darum, wie lange sich die Natur die Art Mensch noch leistet. Zwar können globale Probleme nicht im nationalen Alleingang gelöst werden. Doch ist dies kein hinreichender Grunde, einen als verhängnisvoll erkannten Weg weiterzubeschreiten.
Jeder weiß inzwischen, daß das Modell des ständigen Wachstums nicht zukunftsfähig ist. Dennoch: Als Leitbild in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist es ungebrochen. Wer es wissen will, der weiß auch, daß unser heutiger Wohlstand trügerisch ist. Denn er fußt auf einem Ressourcenverbrauch, der zu Lasten ökologischer Stabilität, weltweiter Gerechtigkeit und kommender Generationen geht. Eine Insel des Wohlstands lässt sich in einem Ozean ansteigender ökologischer und sozialer Probleme auf Dauer nicht verteidigen. Wir kommen also nicht umhin, nach neuen Leitbildern zu suchen: sorgsamer Umgang mit den Ressourcen und der Schöpfung, mehr Solidarität mit den Schwachen, hierzulande und anderswo, Rücksichtnahme auf die Interessen derer, die noch nicht geboren sind. Wir dürfen all das nicht auf die lange Bank schieben - in unserem Interesse und dem unserer Nachkommen.
Wir wenden uns dagegen, daß der Staat bei der Debatte um den „Standort Deutschland“ zunehmend zum Vollstrecker wirtschaftlicher Interessen deformiert. Er verliert dabei andere verfassungsrechtlich begründete Staatsziele aus seinem Blickfeld: Sozialstaatsprinzip, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Auch rechtsstaatliche Verbürgungen sind nicht unangetastet geblieben: Unter dem Deckmantel der „Deregulierung“ wurden nicht nur überflüssige, sondern auch unbequeme Vorschriften beseitigt. Entgegen der Annahme des Gesetzgebers verursacht die ausufernde Vereinfachungs- und Beschleunigungsgesetzgebung durchaus Kosten. Der Preis der Beschleunigung ist neben einem Demokratieabbau die Senkung von Sozial- und Umweltstandards. Dies führt auf lange Sicht zu gesellschaftlichen Schäden, die den kurzfristigen unternehmerischen Gewinn übersteigen. Der Abbau von Verfahrensrechten und Umweltstandards hat negative Signalwirkung auf die anderen europäischen Länder. Es erfüllt uns mit Sorge, daß der Gesetzgeber dem Erfolg seiner an sich schon bedenklichen Beschleunigungsgesetze mißtraut und nun sogar begonnen hat, Einzelvorhaben („Südumfahrung Stendal“) durch Gesetzesakt zu genehmigen. Damit ist der letzte Rest von fachgerichtlicher Kontrolle beseitigt, der effektive Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) ausgehebelt und das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) durchlöchert. Der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht diese Praxis gebilligt hat, vermag uns nicht zu trösten, im Gegenteil.
Die Klagen häufen sich, daß das Recht immer weniger in der Lage ist, Natur, Gesundheit und Leben zu schützen. Eigentum und Profitinteressen genießen Vorrang. Was uns an Schadstoffen in Erde, Wasser, Nahrung und Luft zugemutet wird, bestimmen wirtschaftliche Interessen. Das Bemühen, die durch die Industriezivilisation hervorgerufenen Umweltschäden durch noch mehr Industrie zu beheben, gleicht dem Versucht, Brandwunden auszubrennen. Maßstab für das, was unternommen werden darf, kann nicht die Frage sein, ob es heute gewinnbringend ist, sondern ob es morgen verantwortet werden kann. Das Prinzip Verantwortung gilt auch für die Rechtsprechung. Art. 20a GG verpflichtet alle Staatsgewalten zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen - und zwar auch in Verantwortung für die Nachwelt. Wer heute in Umweltsachen Recht spricht, regelt nicht nur Gegenwärtiges, sondern er entscheidet über die Lebensbedingungen künftiger Generationen. Eine solche ethische Grundhaltung führt zu einem neuen Rechtsgrundsatz:
in dubio pro natura - im Zweifel für die Natur.
Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) waren schon bisher Wegweiser in diese Richtung. Es liegt zunächst in der Hand des Gesetzgebers, den Grundsatz „in dubio pro natura“ mit Leben zu erfüllen. Beispiele sind etwa: Verstärkung des Vorsorgeprinzips, Umkehrung der Beweislastregeln bei Umweltschäden, umfassende Einführung der Verbandsklage, Deklarationspflicht für umweltschädigende Emissionen, Verstärkung des kritischen Sachverstands in Grenzwertkommissionen, Vetorecht des Umweltministers und Einführung der Ökosteuer. Bis zur Umgestaltung der Rechtsordnung nach ökologischen Kriterien trifft die Justiz eine besondere Verantwortung. Sie muß im Rahmen der bestehenden Gesetze die vorhandenen Spielräume ausnutzen und sich zum Interessenwalter derer machen, die keine Stimme haben: die künftigen Bewohner des Raumschiffs Erde und - damit aufs engste verbunden - die belebte und unbelebte Natur.
In dubio pro natura!