05.05.2015 | Fachgruppe Verwaltungsrecht

Stellungnahme

Die rechtsstaatlichen Grenzen des gerichtlichen Asylverfahrens sind bereits ausgereizt

Die steigende Anzahl von Flüchtlingen und asylsuchender Menschen stellt Politik, Verwaltung und Justiz aktuell vor besondere Herausforderungen. Unter anderem muss ein angemessener und zeitnaher Umgang mit der steigenden Zahl von Anträgen auf Asyl und Flüchtlingsschutz sichergestellt werden. Die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zunehmenden Antragsverfahren führen naturgemäß auch zu einer erheblichen Zunahme von Klagen und Eilanträgen vor den Verwaltungsgerichten.

Dies darf nach Überzeugung der Neuen Richtervereinigung allerdings nicht - wie Anfang der 1990’er Jahre - zu weiteren Verkürzungen im gerichtlichen Rechtsschutzverfahren führen. Denn die rechtlichen Rahmenbedingungen des Asylverfahrens sind durch die europarechtliche Perspektive erheblich komplexer geworden und verlangen den zuständigen Richterinnen und Richtern nicht mehr nur die notwendigen Kenntnisse über das komplizierte Zusammenspiel nationaler asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Regelungen sowie über die aktuellen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten und den Umgang mit fremden Kulturen ab, sondern auch mehr und mehr Spezialwissen im Zusammenhang mit den sog. Dublin-Verordnungen und den zahlreichen EU-Richtlinien, die die unionsinternen Zuständigkeiten und die Ausgestaltung des Verfahrens regeln und das nationale Recht überlagern. Diese Überlagerung wiederum führt zu neuen schwierigen Rechtsfragen.

Die Neue Richtervereinigung tritt deshalb dafür ein, die aktuelle Diskussion um eine „Erleichterung und Beschleunigung von Rechtsschutzverfahren“[1] mit Bedacht zu führen und sich zu vergegenwärtigen, dass insbesondere aus Sicht der Schutzsuchenden die Grenzen der Zumutbarkeit und der Rechtsstaatlichkeit mit den bestehenden Regelungen über das gerichtliche Asylverfahren schon ausgereizt sind.

Die Neue Richtervereinigung nimmt deshalb mit Erleichterung zur Kenntnis, dass ein in den Bundesrat eingebrachter Vorstoß Sachsens (BR-Drs. 101/15) unter den Ländern offenbar keine Mehrheit findet. Der Antrag, Proberichterinnen und Proberichter in Asylverfahren nicht erst ab sechs Monaten, sondern schon ab dem ersten Tag ihrer Ernennung als Einzelrichter einsetzen zu wollen, wurde im Innenausschuss mehrheitlich abgelehnt. Der Rechtsausschuss hat beschlossen, sich zu vertagen, um Stellungnahmen aus der verwaltungsgerichtlichen Praxis und das Ergebnis einer aktuell laufenden Umfrage unter den Landesjustizverwaltungen abzuwarten.

Schon der Gedanke an diesen Antrag muss jeden Praktiker und jede Praktikerin mit Schaudern erfüllen, allein wenn man sich vor Augen führt, dass eine Einzelrichtertätigkeit in einem „normalen“ Verwaltungsprozess, wo z.B. über beamtenrechtliche Beihilfeansprüche oder kommunale Abgabenbescheide gestritten wird, erst nach einem Jahr Berufserfahrung zulässig ist. Ohne jegliche Ausbildung im Asyl- und Flüchtlingsrecht könnten die jungen Kolleginnen und Kollegen dieser speziellen Materie inhaltlich nicht gerecht werden. Zum Gefühl der fachlichen Überforderung käme die Verantwortung für die oft existenzielle Entscheidung über das weitere Schicksal der rechtsschutzsuchenden Flüchtlinge oder ganzer Familien. Dieser besonderen Verantwortung wird man ohne die erforderliche Lebens- und Berufserfahrung nur schwer standhalten können, zumal die Rechtsmittel im Asylverfahrensrecht erheblich eingeschränkt sind. Die jungen Proberichterinnen und Proberichter würden, um es deutlich zu sagen: „verheizt“. Ein solcher Einsatz verbietet sich aus Gründen der Fürsorge sowohl ihnen gegenüber als auch gegenüber den Rechtsschutzsuchenden.

 

Die Neue Richtervereinigung unterstützt im Übrigen die Initiative des Deutschen Anwaltvereins „zu den Rechtsmitteln im Asylverfahren gegen Urteile und Beschlüsse im vorläufigen Rechtsschutzverfahren“ (Stellungnahme Nr. 14/2015 von April 2015).

Zur Erhöhung seiner Effektivität, der Rechtssicherheit und der Einzelfallgerechtigkeit sollte der gerichtliche Rechtsschutz in Asylverfahren generell wieder den allgemeinen Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung angenähert werden.

Dies gilt zunächst für die geschilderte Diskussion um den Einsatz von Proberichterinnen und Proberichter als Einzelrichter. Die gegenwärtig einzuhaltende sechsmonatige Vortätigkeit sollte keinesfalls abgeschafft, sondern vielmehr dem allgemeinen Verwaltungsprozessrecht angeglichen und auf ein Jahr angehoben werden (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 VwGO).

Dies gilt darüber hinaus besonders für das Rechtsmittelsystem. Durch die fehlende Beschwerdemöglichkeit gegen Beschlüsse insbesondere bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und durch die sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Rechtsmittelzulassung in Hauptsacheverfahren fehlt es den Obergerichten und erst recht dem Bundesverwaltungsgericht an einer ausreichenden Zahl an Fällen, um sich mit neu auftretenden rechtlichen Problemen und tatrichterlichen Bewertungsfragen etwa zu den Verhältnissen im Herkunftsstaat zu befassen. Erst recht fehlt es ihnen an ausreichend Gelegenheit, die sich daraus ergebenden Fragen zeitnah rechtsvereinheitlichend zu klären.

Bezeichnend für das Auseinanderdriften zwischen erst- und zweitinstanzlicher Befassung sind etwa die im Februar veröffentlichten Zahlen aus Baden-Württemberg. Laut Geschäftstätigkeit 2014 steigen die Eingangszahlen an den vier Verwaltungsgerichten des Landes seit 2009 anhaltend an; im Jahr 2014 stiegen sie wiederum um 50 %. Parallel dazu erhöhte sich auch die Zahl der Erledigungen um ca. 43%. In derselben Zeit sind aber die Eingangszahlen in der zweiten Instanz am Verwaltungsgerichtshof Mannheim erneut rückläufig gewesen.[2]

Die Förderung obergerichtlicher Befassungs- und Klärungsmöglichkeiten kann letztlich sogar beschleunigend wirken. Denn die derzeit stattfindende Zersplitterung der Rechtsprechung nicht nur zwischen den verschiedenen Verwaltungsgerichten, sondern auch zwischen einzelnen Kammern eines Verwaltungsgerichts führt bei den Verfahrensbeteiligten zu einer Rechtsunsicherheit, die ihrerseits eine vermehrte Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes provoziert.

Folgende weitere Regelungen sollten deshalb auch nach Auffassung der Neuen Richtervereinigung auf den Prüfstand gestellt werden:

1.       Ausschluss der Beschwerde gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gemäß § 80 AsylVfG

Eine Ergänzung des Vorbehalts in § 80 AsylVfG um die Beschwerde nach § 146 Abs. 4, §§ 147 ff VwGO muss nicht zu einer nennenswerten Verfahrensverzögerung führen, weil das Obergericht keine vollständig neue Prüfung macht, sondern sich nur mit den vorgebrachten Beschwerdegründen befassen muss. Sofern die anzuhörende Praxis begründete Anhaltspunkte für eine „missbräuchliche“ Inanspruchnahme bei eindeutig aussichtslosen Asylanträgen vortragen sollte, könnte etwaigen Verfahrensverzögerungen insoweit durch eine weitergehende Begrenzung der Beschwerdemöglichkeiten begegnet werden (Beschränkung auf Fälle grundsätzlicher Bedeutung entsprechend § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG oder Ausgestaltung als Zulassungsbeschwerde).

2.       Berufungen

§ 78 Abs. 1 AsylVfG sollte ersatzlos gestrichen werden. Zutreffend weist der DAV in seiner o.g. Stellungnahme darauf hin, dass es für das – im Verwaltungsprozessrecht einmalige - Instrument der Abweisung einer Klage als „offensichtlich“ unzulässig oder unbegründet keinen Bedarf gibt, sondern dass es entgegen der beabsichtigten beschleunigenden Wirkung zu komplizierten gerichtlichen Auseinandersetzungen führt. Entsprechend wenig dürfte davon in der Praxis Gebrauch gemacht werden.

Misslich ist die in § 78 Abs. 2 AsylVfG fehlende Möglichkeit der Verwaltungsgerichte, Berufungen im Falle grundsätzlicher Bedeutung oder bei Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung selbst zuzulassen (entsprechend § 124a Abs. 1 VwGO). Die erstinstanzlich tätigen Richterinnen und Richter können aufgrund ihrer Praxis am ehesten beurteilen, welchen Fragen weitergehender Klärungsbedarf zukommt. Eine Zulassung durch das Verwaltungsgericht hätte zudem beschleunigende Wirkung.

Auch die Gründe für die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 AsylVfG weichen von denen des allgemeinen Verwaltungsprozesses ab. Mit Blick auf die zunehmende Komplexität asylrechtlicher Entscheidungen bei gleichbleibend hoher Einzelrichtertätigkeit ist die Frage, warum nicht auch im Asylrechtsstreit Bedarf für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 (ernstliche Zweifel) und Nr. 2 (besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten) bestehen sollte, neu zu stellen.

3.       Revision zum Bundesverwaltungsgericht

Je weniger Sachen im Wege einer zugelassenen Berufung zu den Obergerichten der Länder gelangen, desto weniger Gelegenheit hat das Bundesverwaltungsgericht zur Befassung und Klärung als Revisionsinstanz. Entsprechend beklagte der Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes jüngst einen erneuten Rückgang der dort allgemein eingelegten Beschwerden und Revisionen. Insbesondere der deutliche Anstieg der Asylverfahren bei den erstinstanzlich tätigen Verwaltungsgerichten wirke sich dort bislang nicht aus. Ausdrücklich weist der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts darauf hin, dass dieser Befund „Anlass zu einer gewissen Sorge“ bereite, weil das Gericht seine gesetzliche Aufgabe, die Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht zu vereinheitlichen und fortzuentwickeln, so nicht verlässlich erfüllen könne. Ohne Vereinheitlichung der Rechtsprechung leide auch die Rechtssicherheit. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass die Belastung durch „überaus arbeitsaufwendige“ erstinstanzliche Verfahren über Infrastrukturvorhaben „besonders groß ist“; zusammen mit den Verfahren zu Flughäfen, für die das Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht zuständig ist, binden diese Großverfahren bereits etwa 30 % der Arbeitskraft der gesamten Richterschaft.[3]

Dieses zunehmende Missverhältnis bedarf in Anbetracht der gesetzlich vorgesehenen Dreistufigkeit des Verwaltungsrechtsweges mit einer reinen Rechtsinstanz an der Spitze einer korrigierenden Weichenstellung. Statt die erst- (und letzt-) instanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts in systemfremder Weise immer weiter auszubauen und damit die Ausnahme zur Regel zu machen – wie aktuell die vom Bundestag verabschiedeten Änderungen im Bundesfernstraßengesetz[4] oder die vom Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts selbst vorgeschlagene Zuständigkeit für sog. Konkurrentenverfahren im Zuge der Ernennung neuer Bundesrichterinnen und -richter[5] - sollte man die dem Bundesverwaltungsgericht von der Verfassung zugewiesene Funktion als oberster Gerichtshof stärken und den revisionsrechtlichen Zugang dorthin erleichtern. Dies gilt insbesondere für das Asylverfahrensrecht, wo beispielsweise gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG eine Sprungrevision ausdrücklich ausgeschlossen ist.


[1] vgl. etwa TOP 2 der Konferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 26.03.2015

[2] Pressemitteilung des VGH vom 03.02. 2015, <link http: vghmannheim.de pb>

vghmannheim.de/pb/,Lde/Geschaeftstaetigkeit+2014/

[3] Pressemitteilung 7/2015 des BVerwG vom 04.02.2015, <link http: www.bverwg.de presse pressemitteilungen>

www.bverwg.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.php

[4] am 26.03.2015, BT-Drs. 18/4281 und 18/4452

[5] Rennert, DVBl 2015, 41 ff.

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