01.09.2011 | Horst Häuser
Input von außen
Die Illusion der Subsumtion
Der Richter* als Teil des Rechtsfindungsprozesses
Das Verhältnis zwischen gesetzlicher Norm und richterlicher Entscheidung gehört zu den großen und bedeutenden Themen der Rechtswissenschaft. Die Freiheit des Richters auf der einen Seite und seine Bindung an das Gesetz auf der anderen Seite berühren vielschichtige Fragen der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und der Rechtspsychologie.
Nach unserer Verfassung ist die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht gebunden“ (<link http: www.gesetze-im-internet.de gg art_20.html external-link-new-window>Art. 20 Abs. 3 GG); die Richter sind „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“ (<link http: www.gesetze-im-internet.de gg art_97.html external-link-new-window>Art. 97 Abs. 1 GG). Die Prinzipien der richterlichen Unabhängigkeit und der Gesetzesbindung verkörpern beide zentrale rechtsstaatliche Errungenschaften und stehen miteinander in funktionalem Zusammenhang (Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in Kaufmann/Hassemer, Einführung in Philosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, 5.3.2).
In welcher Weise sich diese „Bindung“ der Richter bei der Rechtsanwendung verstehen lässt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Die traditionelle juristische Methodenlehre versteht unter Rechtsanwendung einen streng logischen Schluss vom Obersatz (Rechtsnorm) auf den Untersatz (Sachverhalt), der als Subsumtion bezeichnet wird. Diesem juristischen Syllogismus, d. h. dem Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere, liegt die Vorstellung zu Grunde, das Recht stecke bereits fertig im – allenfalls auslegungsbedürftigen – Gesetz, aus dem es im Wege logischer Gedankenoperationen ohne jede Beimischung subjektiver Elemente herausgelöst werden könne. Dieses objektivistische Rechtsverständnis geht auf ein Wissenschaftsideal der Neuzeit zurück: das der wertneutralen Objekt-Erkenntnis. Das am Vorbild der exakten Naturwissenschaften orientierte Ideal bedeutet für die Rechtswissenschaft, dass das „Objekt“ Recht durch das „Subjekt“ Richter rein wissenschaftlich in seiner Objektivität erfasst werden soll. Dies geschieht, indem der Richter völlig hinter das Gesetz zurücktritt und ohne jedes Weglassen oder Hinzufügen nur das Gesetz selbst sprechen lässt. Für jeden Fall gibt es nur eine einzige richtige Entscheidung.
Das Gesetz ist entweder schon aus sich heraus verständlich oder jedenfalls unmissverständlich auslegbar. Bei Auslegungsbedarf stehen dem Richter vier Auslegungsmethoden zur Verfügung, um das Gesetz zum Sprechen zu bringen: die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung.
Der juristische Syllogismus, der den Eindruck logischer Stringenz und zugleich richterlicher Zurückhaltung erweckt, ist nicht ohne jegliche Faszination. Er hat aber einen entscheidenden Nachteil: er entspricht nicht der Realität.
Schon seine wissenschaftstheoretische Grundlage ist falsch. Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt wird heute nicht einmal mehr in den Naturwissenschaften aufrechterhalten, denn auch dort sind nicht allenthalben subjektfreie Erkenntnisse möglich. Was für die „erklärenden“ Naturwissenschaften gilt, gilt erst recht für die „verstehenden“ Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, die es – wie die Rechtswissenschaft – nicht mit substantiellen Gegenständen nach Art der Naturwissenschaften zu tun haben. Hier ist das Subjekt-Objekt-Schema, wie sich noch zeigen wird, schon vom Ansatz her verfehlt, denn hier gibt es keine Erkenntnis, die nicht von dem Rechtssuchenden bzw. Rechtsfindenden geprägt ist (Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in Kaufmann/Hassemer, a. a. O., 2.1 und 2.4.1.2).
Die Frage, ob das Gesetz den Richter „binden“ kann, hängt davon ab, ob die kodifizierte Norm die richterliche Entscheidung wirklich zu bestimmen (determinieren) vermag.
In der Rechtstheorie ist schon seit langem anerkannt, dass weder das Gesetz noch die Auslegungsregeln geeignet sind, die richterliche Entscheidung zu determinieren.
Die Ursache liegt vor allem in der mangelnden Präzision der Sprache. Unsere Sprache ist ein begrenztes Zeichensystem zur Abbildung einer unbegrenzten Wirklichkeit. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir unfähig sind, komplexe Realitäten in angemessenen Sprachmodellen abzubilden (Fritjof Haft, Recht und Sprache, in Kaufmann/Hassemer, a. a. O., 5. Auflage, 5.1).
Allen Rechtsnormen und Rechtsbegriffen fehlt es an einer exakten Bestimmtheit, wie sie mathematischen Symbolen und Gesetzen zu eigen ist. Wegen der Unschärfe und Mehrdeutigkeit der Sprache, der sich der Gesetzgeber bedienen muss, um Sinngehalte verständlich zu transportieren, ist jeder in einer Rechtsnorm verwendete Begriff in seinem Sinngehalt nicht eindeutig, sondern unbestimmt. Die Ermittlung eines Begriffsinhalts ist daher immer erst das Ergebnis einer vorangegangenen Interpretation, auch wenn „die theoretische Notwendigkeit der interpretativen Sinngebung dem jeweiligen Rechtsanwender oft gar nicht bewusst sein mag, vor allem wenn es sich um häufig gebrauchte oder von der Rechtsprechung und Rechtslehre bereits eingehend erörterte Rechtsbegriffe handelt“ (Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1982, § 17, Rdn. 39). Die in einer Norm vom Gesetzgeber benutzten Begriffe bedürfen stets einer Interpretation und damit einer Wertung durch den anwendenden Richter. Statt der von der traditionellen Methodenlehre postulierten objektiven Eindeutigkeit trifft der Richter im Gesetz auf eine „weite Divergenzspanne subjektiver Mehrdeutigkeit“ (Rupp, NJW 1973, 1773). Damit öffnet sich für ihn ein Wertungsspielraum.
Dazu Hassemer (a. a. O., 5.3.3.): „Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur Vagheit und Porösität von Gesetzesbegriffen ... darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten. Er kann es nicht. Konsequenz einer solchen, sich scheinbar rechtsstaatlich begründenden Forderung ist nicht, dass die Rechtsprechung sich exakter an gesetzliche Vorschriften hält, sondern vielmehr, dass sie so tut, als folge sie nur dem Gesetz.“
Die Entscheidung des Richters ist also etwas anderes als das Ergebnis eines an das Gesetz „gebundenen“ strenglogischen Subsumtionsaktes, mit dem die einzig richtige Entscheidung erkannt wird.
Die richterliche Entscheidung ist auch kein bloßer Erkenntnisakt, weil sie neben kognitiven Elementen auch voluntative Elemente enthält.
Da die mangelnde Präzision der Sprache dem Richter einen nicht eliminierbaren Wertungs- und Gestaltungsspielraum eröffnet, ist die Entscheidung zwischen den sich anbietenden Alternativen ein „Wahlakt, der im Willen des Interpreten liegt“ (Adomeit in Görlitz, Handlexikon zur Rechtswissenschaft, 1972, Stichwort „Juristische Methode“). Dazu hat das BVerfG (E 34, 269/287) schon Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ausgeführt, dass die Aufgabe der Rechtsprechung es erfordern könne, Wertvorstellungen unserer Rechtsordnung „in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ... zu realisieren“.
Die im Gesetz enthaltene Mehrdeutigkeit kann auch nicht mittels der juristischen Methodenlehre auf Eindeutigkeit reduziert werden.
Zum einen sind die mit Hilfe der Auslegungsregeln gefundenen Ergebnisse ebenfalls nicht eindeutig, sondern „schon ein erster Blick auf diese Interpretationsmethoden zeigt, dass sie selbst interpretationsbedürftig sind“ (Hassemer, a. a. O., 5.3.4.1).
Zum anderen erlaubt es der „Methodenpluralismus“ der Auslegungsregeln dem Richter, von Fall zu Fall zu entscheiden, welche Auslegungsregel er anwenden will, ob die grammatikalische, die systematische, die historische, die teleologische oder – in Weiterentwicklung Savignys – die verfassungskonforme oder die europarechtsfreundliche Auslegung. Es gibt nämlich keine Präferenz- oder Metaregel, die dem Richter eine bestimmte Methode vorschreibt, vielmehr ist er in der Wahl der Auslegungsmethode frei. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Richter bei der Subsumtion nicht nur den Obersatz (Rechtsnorm), sondern auch den Untersatz – den Sachverhalt – erfassen muss. Der Sachverhalt ist jedoch, ebenso wie die Rechtsnorm, im allgemeinen nicht klar und eindeutig, so dass dem Richter „neben einer Normsuche auch grundsätzlich eine Sachverhaltssuche abverlangt wird“ (Schmid in Hommers, Perspektiven der Rechtspsychologie, 1991, S. 62). Auch in der Sachverhaltsfeststellung, die stets im Blick auf die anzuwendende Rechtsnorm erfolgt, liegt aber bereits „eine Auswahl, Sichtung und Deutung“ durch den Richter (Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1996, S. 2).
Der Richter ist als Rechtsfinder stets auch selbst Teil des Rechtsfindungsprozesses. Rechtsquelle der richterlichen Entscheidung ist nicht nur das Gesetz, sondern auch die Person des Richters selbst. Schon vor einem halben Jahrhundert hat Karl Engisch dazu ausgeführt: „Die Persönlichkeit lässt sich bei der rechtlichen Entscheidung als mitentscheidende Instanz nie ausschalten. Sie geht in die Entscheidung ein und trägt sie“. Und zur Realität der richterlichen Rechtsfindung erklärt er in aller Offenheit, dass es die Praxis der Gerichte sei, „von Fall zu Fall diejenige Auslegungsmethode zu wählen, die zum befriedigenden Ergebnis führt“ (Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 22 u. 82).
Auch Josef Esser, der mit seinem Buch Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1970) die Diskussion in den siebziger Jahren nachhaltig beeinflusst hat, kommt zum selben Ergebnis. Esser geht davon aus, dass die juristische Methodenlehre den Richtern weder Hilfe noch Kontrolle bedeute. Die Praxis benutze sie nur, um damit die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis (Vorverständnis) gefundene und als richtig erachtete Entscheidung lege artis zu begründen. Deshalb unterscheidet Esser zwischen der – vorweggenommenen – Findung und der – nachträglichen – Begründung einer Entscheidung. Die nachträgliche Begründung sage nichts über die zuvor erfolgte Findung aus, sondern sie stelle nur die plausible Legitimation der Entscheidung nach außen dar. Zur Begründung wähle der Richter eine Auslegungsmethode, die sich für den Nachweis der Vereinbarkeit seiner Entscheidung mit dem gesetzten Recht als zweckdienlich erweise.
Der von Esser verwendete Begriff des Vorverständnisses, der nicht mit dem negativ besetzten Begriff des Vorurteils verwechselt werden darf, bedeutet, dass der Richter nicht „jungfräulich“, sondern immer schon mit einem vorhandenen Grundverständnis an den Fall herangeht (Hirsch, Vom Vorurteil zum Urteil, ZRP 2009, S. 61). Dieses Grundoder Vorverständnis meint nichts anderes als die Subjektivität des Richters, der – wie jeder Mensch – geprägt ist von den unterschiedlichsten Lebenserfahrungen: von seinem Elternhaus, der weltlichen und religiösen Erziehung, dem sozialen Umfeld, der Klasse und Kultur, der Ausbildung in Schule und Universität, den persönlichen Lebenserfahrungen, den exemplarisch begriffenen Konfliktfällen, dem beruflichen Sozialisationsprozess und vielem anderen mehr. Solange Menschen und nicht Subsumtionsautomaten Recht sprechen, ist dieses Vorverständnis keine bedauerliche Begleiterscheinung, sondern notwendige Voraussetzung der Rechtsfindung, denn ein „vorverständnisfreies“ Verstehen ist unmöglich. Die Vorstellung, Richter könnten ihre Entscheidung „weltabgewandt und unbeeinflusst finden, impliziert grundsätzlich einen vereinfachten Gesetzespositivismus“, bemerkt Berkemann, der im juristischen Syllogismus ohnehin nur ein „methodologisches Erbe des alten Gesetzespositivismus“ sieht (Gesetzesbindung und Fragen einer ideologiekritischen Urteilskritik, in Festschrift für Willi Geiger, 1974, S. 315).
Auch wenn Essers Thesen in der Rechtspraxis auf Ablehnung stießen, hat sich die Kritik an der juristischen Methodenlehre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Rechtstheorie und der Rechtssoziologie durchgesetzt.
Damit war der Weg frei für ein anderes Verständnis von Recht, das nicht mehr als „statisch“ begriffen wird, sondern als gestaltend und kreativ (was an die rechtssoziologische Unterscheidung zwischen „law in the books“ und „law in action“ erinnert). Danach kann Recht nicht mehr als bloßes „Objekt der Erkenntnis“ angesehen werden, das dem Richter im Gesetz vorgegeben ist, sondern es ist als Gestaltungsaufgabe zu begreifen.
Dem entspricht auch ein geändertes Verständnis von Recht auf Seiten des Gesetzgebers, der zunehmend offene Formulierungen benutzt und abstraktgenerelle Regelungen verwendet, um die Anpassung an den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse zu ermöglichen und „der Lösung des Einzelfalls möglichst keine Hindernisse in den zu Weg stellen“ (Robert Weimar, Psychologische Dimensionen juristischen Subsumierens, in Jakob/Usteri/Weimar, Psyche – Recht – Gesellschaft, 1995, S. 172).
Im modernen gewaltengeteilten Rechtsstaat ist Recht kein Zustand, der erkannt, sondern ein Akt, der verwirklicht wird. Recht entsteht erst im Prozess der Rechtsverwirklichung. Das Gesetz ist demgegenüber nur „die Möglichkeit von Recht“; erst bei der Anwendung im konkreten Fall wird daraus „wirkliches Recht“ (Fritjof Haft, a. a. O., 5.2).
Wie die konkrete Rechtsfindung in der Realität abläuft, ist bis heute kaum erforscht. Es fehlt an Untersuchungen sowohl zu den individuellen als auch zu den gesellschaftlichen Determinanten der richterlichen Entscheidungsfindung, vor allem was die psychologischen Grundlagen richterlichen Handelns angeht. Lediglich zum Ablauf des Entscheidungsprozesses finden sich einige Studien mit psychologischem Hintergrund.
Nach Berkemann (Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, in Jakob/Rehbinder, Beiträge zur Rechtspsychologie, 1987, 135) ist der Verlauf der richterlichen Entscheidungsfindung ein hochkomplexer Vorgang, der sich über mehrere Phasen erstreckt.
Nach Eingang eines neuen Falles beginnt die situativ bedingte Phase der Unorientiertheit des Richters, wenn er feststellt, dass er den Fall auch mit seinem Erfahrungswissen nicht sofort zu lösen vermag. Da eine Routineentscheidung nicht möglich erscheint, werden zunächst verschiedene Lösungsmöglichkeiten – noch wenig reflektiert – erwogen und meist ohne nähere Prüfung verworfen. Die Faktenanalyse wird erneuert, um dem Sachverhalt Nuancen abzugewinnen, die die Falllösung erleichtern sollen. Eine vom Durchschnittsfall abweichende Sachlage wird vom Richter als „Störfaktor“ erlebt. Die Spannung des Richters erhöht sich.
In der folgenden Überlegungsphase versucht der Richter die „störende Mehrdeutigkeit rechtlicher Wertungen“ zu beseitigen. Neue Informationen werden herangezogen. Mögliche Lösungen werden auf ihre Übereinstimmung mit der Rechtsordnung geprüft und gegebenenfalls in Gesprächen mit Kollegen auf ihre Plausibilität getestet. Gedanken und Einfälle werden zunehmend auf den Fall zentriert. Die Problemfelder des Falles werden in verschiedenen Anläufen umstrukturiert. Auch Rechtsauffassungen der Verfahrensbeteiligten werden in die Überlegungen mit einbezogen. Der Richter muss die Ambivalenz der auftretenden Wertkonflikte aushalten. Die Situation wird wegen des wachsenden Zeitdrucks vom Richter zunehmend als konfliktgeladen erlebt.
In der abschließenden Entschlussphase werden letzte Widerstände gegen die Entscheidung beseitigt. Der immer stärker werdende „Lösungsdruck“ lässt den Richter zur Entscheidung gelangen. Danach stellt sich ein als entlastend empfundenes „Lösungsgefühl“ ein, weil die früheren Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten aufgehoben sind. Zugleich wird ein intellektueller Einklang mit dem Gesetz erlebt, da man nicht anders habe entscheiden können. Oft wird sogar die Gewissheit der normativen Richtigkeit der Entscheidung verspürt. Der nunmehr von allen Zweifeln befreite Richter erreicht wieder seine ursprüngliche Aktionsfähigkeit.
Neben solchen Studien zum Ablauf des richterlichen Entscheidungsprozesses fehlt es jedoch bis heute für den eigentlichen, bisher „Subsumieren“ genannten Bereich des richterlichen Entscheidens an psychologischen und sozialpsychologischen Untersuchungen (Weimar, a. a. O. 1995, S. 169).
Wenn wir uns diesem Bereich gleichwohl annähern wollen, ist es zunächst von Vorteil, die auf Engisch und Esser zurückgehende Unterscheidung zwischen „Findung und Begründung“ (s. o.) anzuwenden, die sich in der Rechtstheorie durchgesetzt hat. Dementsprechend wird heute – in leicht veränderter Terminologie – zwischen Herstellung und Darstellung gerichtlicher Entscheidungen unterschieden.
Die Darstellung erfolgt auch heute noch mittels der herkömmlichen Methodenregeln, die hinlänglich bekannt sind.
Was die Herstellung angeht, so gibt es so gut wie keine Erkenntnisse. Deshalb kann man die Herstellung der richterlichen Entscheidung auch als die „black box“ der Rechtsfindung bezeichnen.
Sie kommt wohl durch eine Wechselwirkung von drei – idealtypisch unterscheidbaren – Kräftefeldern zustande, die man in einem Dreieck veranschaulichen kann (vgl. Lorenz Böllinger, Rationale und irrationale Momente bei der Anwendung des Jugendstrafrechts, Vortragsmanuskript, 1994, S. 17).
Das Dreieck besteht
1. aus Recht und Gesetz („law in the books“), d. h. aus den Normen einschließlich der Methodenregeln und den Gerechtigkeitsvorstellungen;
2. aus bewussten außerrechtlichen Determinanten, d. h. den äußeren Rahmenbedingungen, z. B. den soziologisch und sozialpsychologisch bekannten Strukturen innerhalb von Institutionen und der Justiz überhaupt;
3. aus unbewussten innerpsychischen Determinanten, d. h. der tiefenpsychologischen Dimension, z. B. den zugrunde liegenden Persönlichkeitsstrukturen der handelnden Personen, insbesondere des Richters und seines Vorverständnisses sowie der situativen Dynamik, wie sie etwa in psychoanalytischen Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen zum Ausdruck kommt.
Diese Kräftefelder gehen ineinander über und wirken aufeinander ein. Sie sind eine schwer zu analysierende Gemengelage von subjektiven und objektiven, von theoretischen und praktischen, von kognitiven und voluntativen, von rationalen, emotionalen und irrationalen Elementen, aus denen letztendlich die Entscheidung des Richters erwächst (vgl. dazu auch Christoph Strecker, Selbsterkenntnis als Rechtsquelle, BJ 2011, S. 56).
Wesentliche Anteile dieses Entscheidungsprozesses verlaufen unbewusst. Deshalb ist es für die Rechtswissenschaft notwendig, sich mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse vertraut zu machen. Die Psychoanalyse ist die einzige Wissenschaft, die eine Methode zur Aufdeckung unbewusster Prozesse zur Verfügung stellen kann.
In erkenntnistheoretischer Sicht gilt die juristische Methodenlehre heute nur noch als eine „Sammlung von Ratschlägen und Hinweisen, die sich in der Tradition bewährt haben“, die den Anwender aber nicht mehr „auf einem gesicherten Weg zu einem gesicherten Ergebnis führen“ (Adomeit, a. a. O).
In der Rechtspraxis ist die Auslegungsideologie des 19. Jahrhunderts jedoch noch keineswegs überwunden (Weimar, a. a. O. 1995, 176).
Arthur Kaufmann hat dazu ausgeführt: „Betrachtet man die gerichtliche Praxis unter methodologischen Gesichtspunkten, so gewinnt man den Eindruck, dass hier die Zeit stehen geblieben ist“ (a. a. O., 2.3.6.3). Auch heute noch bedienen sich die Richter der traditionellen Methodenlehre im Glauben an ihre logische Stringenz. Wie vor hundert Jahren gehen sie gemäß dem Subsumtionsdogma davon aus, dass ein „richtiges“ Urteil das Ergebnis einer „logischen“ Subsumtion sei.
Lediglich die Vorstellung von der „einzig richtigen Entscheidung“ hat sich bei vielen Rechtspragmatikern modifiziert, indem an die Stelle der strikten Gegenüberstellung von „richtiger“ und „falscher“ Entscheidung die von „vertretbaren“ und „unvertretbaren“ Rechtsauffassungen getreten ist, was aber ohne erkennbare Auswirkung auf ihre grundsätzliche Anerkennung der herkömmlichen Methodenlehre geblieben ist. Die meisten Richter sind immer noch von der „Objektivität“ ihrer subjektiven Entscheidung überzeugt.
Zwar kennen viele Richter inzwischen die kritischen Einwände gegen den juristischen Syllogismus und räumen auch ein, dass der Gesetzestext den Anwender nicht vollständig determinieren kann. Zugleich relativieren sie jedoch diese Erkenntnis bis zur Bedeutungslosigkeit, indem sie sie auf problematische Ausnahmefälle beschränken, während die „normalen Alltagsfälle“ nach wie vor problemlos subsumiert werden könnten. Dazu hat Arthur Kaufmann klargestellt: „Dass dieses Subsumtionsdogma nicht stimmt, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Es stimmt aber nicht nur ausnahmsweise nicht, es stimmt überhaupt nicht“ (zitiert bei Lamprecht, Die Richterperson als Rechtsquelle, BJ 2005, S. 16).
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch junge und kritische Richter die neuen Erkenntnisse der Rechtstheorie nicht verinnerlicht haben. Man trifft bei ihnen meist auf ein bloß abstrakt-theoretisches Wissen, das aber im Alltag nicht als konkret-praktische Handlungsverpflichtung wahrgenommen und schon gar nicht umgesetzt wird. Der „Traditionszusammenhang“ (Esser) innerhalb der Justiz ist manchmal über Generationen hinweg wirksam, ohne dass er den Beteiligten bewusst wird.
Das Festhalten der Richterschaft am Subsumtionsdogma ist auf heftige Kritik „von außen“ gestoßen. Rolf Lamprecht bezeichnet das Subsumtionsdogma als Legende, als Irrglaube, als Selbstbetrug, als „die Lebenslüge Nr. 1 der Juristen“ (a. a. O., S. 14, mit Hinweis auf Martin Draht, Der Spiegel 39/1972, S. 51). Schon dass es von Instanz zu Instanz oft mehrere Meinungen gebe, zeuge „von der Relativität des Rechts – ja, von seiner Subjektivität“.
Der hartnäckige Glaube an das Subsumtionsdogma lässt sich nur sozialpsychologisch verstehen. Dieses Beharren beruht offensichtlich auf dem idealisierten Selbstverständnis der Richterschaft, das gerade durch die herkömmliche Methodenlehre nachhaltig gestützt wird, so dass aus Sicht der Richter auf sie nicht verzichtet werden kann.
Was das Selbstverständnis des Richters angeht, so ist vor allem sein Wunsch nach Objektivität zu nennen: nach einer objektiven, logischen und gesetzeskonformen Entscheidung.
Doch die „wohltätige Suggestion“ strenger Determiniertheit (Kantorowicz), die die herkömmliche Methodenlehre gewährleistete, lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Die Erkenntnis subjektiver, irrationaler und unbewusster Elemente in seiner Entscheidung bedeutet eine schwere Kränkung für das Selbstbild des Richters.
Das richterliche Selbstverständnis ist darüber hinaus durch die Entlastung von Verantwortung gekennzeichnet, die ursprünglich aus der strengen Gesetzesbindung folgte und die dem Gesetzgeber die alleinige Verantwortung auch für die richterliche Entscheidung zuschrieb. Diese Entlastung durch die Methodenlehre war dem Richter nicht unwillkommen und erleichterte ihm seine Entscheidungsfindung (ob die Entlastung auch gerechtfertigt war, ist eine andere Frage). Die neue Erkenntnis, dass auch der Richter als Subjekt des Rechtsfindungsaktes selbst Rechtsquelle ist und dass seine Entscheidung zudem voluntative Elemente enthält, bedeutet für den Richter nunmehr zwangsläufig die Übernahme von Verantwortung und damit eine schwere Bürde.
Schließlich ist das richterliche Selbstverständnis auch durch die Hoffnung auf Akzeptanz geprägt, die der Richter in seine Entscheidung setzt. Er weiß, dass das Ergebnis eines „streng-logischen“ Subsumtionsaktes in der Öffentlichkeit eher Akzeptanz findet als ein „subjektives“ richterliches Urteil, das zudem einen höheren Begründungsaufwand erfordert und gleichwohl die Person des Richters leichter kritisier- und angreifbar macht.
Um sowohl der Kränkung fehlender Objektivität als auch der Bürde der Verantwortung zu entgehen und die hohe Akzeptanz einer „objektiven“ Entscheidung zu erhalten, weigert sich ein Großteil der Richterschaft bewusst oder unbewusst, die Kritik an der herkömmlichen Methodenlehre aufzunehmen und hält stattdessen am Subsumtionsdogma fest. Kritische Einwände werden ignoriert, geleugnet oder verharmlost. Mit solchen „irrationalen Bewältigungsstrategien“ versucht die Richterschaft, ihr herkömmliches idealisiertes Selbstbild zu erhalten. Um sich die belastende Auseinandersetzung mit der ernüchternden Realität zu ersparen, werden die kritischen Einwände – in einem Akt kollektiver Verdrängung – aus dem Bewusstsein entfernt. Man kann hier wegen der zugrunde liegenden Selbstidealisierung von richterlichen „Größenphantasien“ sprechen, die um jeden Preis - auch den der Realität - aufrechterhalten werden sollen.
Doch dieser Versuch muss scheitern. Die Subsumtion ist eine Illusion.
Die Erkenntnisse der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und der Rechtspsychologie haben gezeigt, dass die herkömmliche Methodenlehre keine adäquate Beschreibung der richterlichen Rechtsfindung in der Rechtswirklichkeit ist.
Deshalb kann an dem Subsumtionsdogma schon aus grundsätzlichen Erwägungen nicht mehr festgehalten werden, wenn nicht jeder Anspruch auf Rationalität aufgegeben werden soll.
Das Verschweigen und Ausblenden der subjektiven Eigenleistung bei der Rechtsfindung birgt zudem die Gefahr in sich, dass der Rechtsanwender sein subjektives Vorverständnis für objektives Recht hält. Schon Adorno hat darauf hingewiesen, dass Subjektivität, die sich verleugnet, in einen ideologischen Objektivismus umschlägt (Negative Dialektik, 1966, S. 72).
Die unvermeidliche subjektive Eigenleistung des Richters gilt es daher nach innen (sich selbst) bewusst zu machen und nach außen (den anderen) offen zu legen. Mit der Bewusstmachung und Offenlegung können die subjektiven Entscheidungselemente (die Eigenleistung des Rechtsfinders) in den Argumentationszusammenhang eingeordnet werden.
Damit werden die „wahren“ Gründe einer juristischen Entscheidung der Kritik zugänglich und die Möglichkeit eines rationalen öffentlichen Diskurses wird eröffnet. Erst dadurch besteht die Chance, die „objektive Richtigkeit“ einer Rechtsentscheidung, die die juristische Methodenlehre nicht zu gewährleisten vermag, durch Argumentation und Konsens über die Vernünftigkeit der gefundenen Lösung unter den Beteiligten herzustellen (Haft, a. a. O., 5.2).
Die Gesetzesbindung des Richters kann nach all dem nur bedeuten, dass die notwendigerweise in die Entscheidung einfließenden subjektiven Elemente vom Richter reflektiert, offen gelegt und dabei selbstverständlich auch argumentativ gerechtfertigt werden.
Die Bindung an das Gesetz ist nicht als formeller Gesetzesgehorsam, sondern als inhaltliche Entscheidungsverantwortung zu begreifen (Weimar, a. a. O. 1995, S. 183).
Ein Richter, der nach wie vor die herkömmliche Methodenlehre anwendet und glaubt, er entnehme seine „objektiven“ Entscheidungskriterien nur dem Gesetz, erliegt einer Selbsttäuschung.
Während die verfassungsrechtlich gewährte Garantie der richterlichen Unabhängigkeit den Richter vor Eingriffen „von außen“ oder „von oben“ schützen soll, bleibt er vor Einflüssen, die „von innen“ kommen – und die ihm noch nicht einmal bewusst sind – ungeschützt (Lamprecht, a. a. O., S. 15).
Auch hier gilt der inzwischen oft zitierte, aber deshalb nicht weniger kluge Satz von Arthur Kaufmann: „Die Unabhängigkeit des Richters wächst in dem Maße, in dem er sich seiner Abhängigkeit bewusst wird.“
* Die weibliche Form ist der männlichen Form in diesem Artikel gleichgestellt; letztere wurde lediglich aus Gründen sprachlicher Vereinfachung gewählt.